Wemlighausen. Geschichte und Geschichten – immer wieder ging es auf dem Literaturpflaster „Spanien“ am Montagabend um dieses Miteinander, um dieses Spannungsverhältnis. Der Historiker Dr. Carlos Collado Seidel blickte im Abenteuerdorf Wittgenstein auf „Nation, gelebte Vergangenheit und Identitäten in Spanien heute“, so die Unterzeile der Vortrags-Überschrift, weil er eine Antwort auf die Frage „Was ist Spanien?“ geben wollte. Der Professor für Neueste Geschichte an der Marburger Philipps-Universität begann - wie wohl nicht anders zu erwarten - seinen Vortrag 1492, also in dem Jahr, als Christoph Kolumbus in Diensten des Königreichs Kastilien Amerika entdeckte. Und trotzdem schaffte es der Experte, innerhalb einer guten Stunde in der Gegenwart anzukommen und dabei mit einer Vielzahl von Fakten, aber auch Geschichten eine Geschichte Spaniens, vielleicht sogar die Geschichte Spaniens vor zwei Dutzend Zuhörenden zusammenpuzzeln.
Blickt man von außen auf das flächenmäßig zweitgrößte Land mit der viertgrößten Bevölkerung in der Europäischen Union, erscheint es als Monolith auf der Iberischen Halbinsel, von der man nur ein eher kleines Stück Portugal abziehen muss. Carlos Collado Seidel zeichnete für Außenstehende jedoch ein sehr detailliertes Bild ganz unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen in dem großen Spanien. Der Historiker schaute insbesondere auf die sinnstiftenden Erzählungen der Katalanen und der Basken, problemlos arbeitete er klare Narrative, so der Fachbegriff, heraus. Da war Katalonien, das als Nationalfeiertag den Tag seiner Kapitulation zelebriere, das sich trotz seiner romanischen Sprache weniger in der Tradition der Römer als vielmehr in der Tradition des Händlervolks der Phönizier sehe, das sich im Reigen der 17 Autonomen Regionen in Spanien nicht als Gleicher und Gleichen, sondern als Besonderer unter Gleichen sehe. Genau wie die Basken, deren Sprache zu den ganz wenigen in Europa gehöre, die nicht mit der indogermanischen Sprachenfamilie aller Nachbarn in Verbindung gebracht werden könnten, die sich selbst für das älteste Volk Europas hielten, die weiterhin von Blutreinheit sprächen und bis in die 1980er Jahre die baskischen Schädel vermaßen, um das Besondere ihrer mutmaßlichen Rasse wissenschaftlich zu ergründen.