Bad Berleburg. (schn) Die ersten Pflastersteine 2018 sind vergeben, das Berleburger Literaturpflaster hat begonnen. Wie immer gab es zum Auftakt "Literatur auf Rezept", wie es der Chef der Kur-Apotheke, Karsten Wolter, ausdrückte. Auch in diesem Jahr war der Besucherandrang beim Einführungsvortrag zum Gastland 2018 groß, so groß, dass der Raum kaum genug Platz bot. Dr. Zaal Andronikashvili warf einen kundigen Blick auf Georgien, "das Land, dass die Literatur sehr liebte". Große Worte für eine in Deutschland eher unbekannte literarische Welt.
Georgien hat seine ganze eigene, lange Literaturgeschichte. Seit mehr als 1500 Jahren lassen sich Prosa und Poesie nachweisen. Anders als im römischkatholischen Westen setzte die orthodoxe Ostkirche sehr früh Bibelübersetzungen in Volkssprache. So entwickelte sich auch in Georgien die Sprache der Religion hin zu einer Sprache der Literatur. Und diese Sprache sei, wie Zaal Andronikashvili bemerkte, eine Insel, die keine Verwandtschaften zu den Sprachen in der Nachbarschaft habe. Vielleicht hat sich auch deshalb in dem Land im Kaukasus eine besonders lebendige Poesie-Landschaft entwickelt. Die moderne georgische Gegenwartsliteratur hat außergewöhnliche Werke zu bieten, diesen Schluss legten die Ausführungen von Andronikashvili nahe. Mehrfach sprach er von herausragenden Werken und Autoren und vom "Besten, das die georgische Gegenwart zu bieten hat".
Die kulturellen Eigenheiten und die Sowjetzeit haben ihre Spuren auch in der Literatur hinterlassen. Das Bildungsbürgertum hatte über Jahrhunderte eine große Bedeutung innerhalb der Gesellschaft, und laut Andronikashvili sind tendenziell "Bildung und Besitz zwei unvereinbare Konzepte". Dass bis ins 19. Jahrhundert Literatur ein Thema vornehmlich für den Adel und die Oberschicht war, belegt diese Sichtweise.
Typisch für Georgien ist die romantische Konzentration auf die Berge des Kaukasus, gepaart mit einer bewussten Abkehr von der maritimen Seite des Landes. Das Schwarze Meer sei immer als bedrohlich angesehen worden, so Andronikashvili. Diese Sichtweise habe sich erst in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Trotz aller Bedrohlichkeit des Schwarzen Meeres, habe es in Georgien immer den Blick sowohl nach West als auch nach Ost gegeben; die Literatur nehme Anleihen aus dem lateinisch geprägten Westen, dazu aus Persien, und natürlich Russland. Der übermächtige Nachbar hat, gewollt oder nicht, immer auch Einfluss auf die Geschichte und das Schrifttum Georgiens gehabt. Gleichzeitig förderte die Literatur zur Zeit der eine Russifizierung anstrebenden UdSSR den Erhalt einer gewissen Eigenständigkeit. "Die Schriftsteller konnten sich als Freiheitskämpfer fühlen", sagte Andronikashvili. Doch sei es nicht gerade einfach gewesen, denn neben dem Konflikt habe es auch Koexistenz und Kollaboration gegeben.
Es dauerte eine Zeit, bis sich einige Autoren daran machten, genau diesen Zwiespalt zu entlarven. Diese "neue Prosa" setzte sich bewusst ab von den Klassikern, schuf etwas Neues. Die Themen Emanzipation und Selbstbestimmung sind nach wie vor zentrale Motive der georgischen Literatur. Dabei geht es nicht nur um nationale Themen, um die Motive von Krieg und Frieden in einem Land, das in 30 Jahren Bürgerkrieg und Krieg erlebt hat. Es geht auch um soziale Außenseiter, um Menschen, die Wendeverlierer sind und waren. War Georgien in der UdSSR die wohlhabendste Republik, folgte ab 1991 ein Niedergang. Auch das verarbeiten die georgischen Autoren auf ihre ganz eigene Weise.
Wer sich tiefer in die georgische Literatur einlesen wollte, dem empfahl Zaal Andronikashvili "Globalisierung" von Kote Janderi, "Der Südelefant" von Archil Kikodze und "Das Abzählen" von Tamta Melaschwili. Nicht zu vergessen aus der jüngeren georgischen Literatur: der Romankosmos "Santa Esperanza" von Aka Mortschiladse.
In den nächsten Wochen sind viele Autoren aus Georgien beim Bad Berleburger Literaturpflaster live zu erleben.
Von Guido Schneider