Bad Berleburg. (cs) Ein weltbekannter Neuseeländer in der Wittgensteiner Provinz ist nicht alltäglich. Anthony McCarten war erst gut zwei Stunden vor Lesungsbeginn in Bad Berleburg angekommen, doch seine Eindrücke von der Landschaft, die er bei goldenem Oktoberlicht betrachtete, waren bereits beim ersten Hingucker für ihn eine Wonne.
Doch wie kommt ein Mann, der sich sonst in der großen Welt des Films bewegt, nach Bad Berleburg? Das Berleburger Literaturpflaster mit seiner Veranstaltergemeinschaft, allen voran Stadtarchivarin Rikarde Riedesel als Organisatorin, holt seit 19 Jahren das Non-Plus-Ultra der Ehrengäste der Frankfurter Buchmesse an die Odeborn.
In Frankfurt ist Bad Berleburg mit seinem Projekt schon eine feste Größe und eine gefragte Stätte, so dass auch die Buchverlage gern ihre unter Vertrag genommenen Autoren zu Lesungen ins Ländchen schicken.
"Mein Thema ist die Familie und wie man sie überlebt."
Anthony McCarten, Autor aus Neuseeland
Im Sanitätshaus Kienzle, das schon zum traditionellen Veranstaltungsort wurde, fanden sich wie in den Vorjahren jetzt wieder zahlreiche Literaturfreunde ein.
Rikarde Riedesel und Otto Marburger (Vorsitzender der Kulturgemeinde) gestalteten die Begrüßung sehr spannend, zunächst ohne den Autor.
Der betrat aus den hinteren Geschäftsräumen den Verkaufsraum und wurde vom Publikum wie ein Star begrüßt, der er tatsächlich auch ist. Rikarde Riedesel stellte ihn als "global player" vor und wusste natürlich, dass sie nicht übertreibt.
Anthony McCarten hatte bereits mit 25 Jahren im Jahr 1987 mit seinem Theaterstück "Ladies' Night" seinen weltweiten Durchbruch. Neben der Tätigkeit als Drehbuchautor, Lyriker und Regisseur ist er auch mit fünf Romanen erfolgreich.
In Bad Berleburg stellte er sein neues Werk "Ganz normale Helden" vor. Das Buch liegt in deutscher Übersetzung vor, ist aber noch nicht in McCartens englischer Muttersprache erschienen. Somit ist die deutsche Leserschaft exklusiv am Start.
"Wir alle sind umgeben von fantastischen Geschichten, manche komisch, manche bitter und traurig. In diesem Werk ist mir die Institution Familie wichtig. Ich sage es folgendermaßen: Mein Thema ist die Familie und wie man sie überlebt," gibt Anthony McCarten zusammenfassend das Gerüst seines Romans wieder. Doch er geht selbstredend auch in die Tiefe.
Familienzusammenführung mit PC
Seine Protagonisten, die nunmehr dreiköpfige englische Familie Delpe, Renata, Jeff und James verliert sich quasi aus den Augen nach dem Krebstod des jüngeren Sohnes Donald. Der Autor bedient sich der Computertechnologie, um die Familienmitglieder wieder zueinander finden zu lassen. Mutter Renata befindet sich als Hilfsmittel im Chat mit einem digitalen "Gott", Vater James sucht, nachdem sich Jeff den Eltern an einen unbekannten Aufenthaltsort entzog, über ein Online-Spiel als Spielgegner, der für Jeff im Netz unerkannt bleiben soll nach dem verlorenen Sohn.
Der Druck auf Jeff war durch die Trauer der Eltern um Donald derart groß, dass er für sich entschied: "Ich habe die Schnauze voll von diesem Theater und gehe!"
Anthony McCartens Ansinnen ist, zu zeigen, wir alle erliegen, egal aus welchen Gründen, der Nachfolgerevolution der Industrialisierung. Die digitale Welt ist Herausforderung, Werkzeug und Freizeitbasis zugleich. Das süchtigmachende Potenzial enorm hoch. All dies vereinbart er, indem er sich individuell auf den Gebrauch des Internets aller drei Delpes widmet.
"Ich habe nie vorher Computerspiele praktiziert. Doch als meine drei Söhne einmal auf Ferienfahrt waren und die X-Box daheim zu verwaisen drohte, setzte ich mich hin und gab mich der Cyberwelt hin. Nachdem ich ein Spiel drei Tage lang 'durchhecheln' musste, um das nächste Level zu erreichen, schwebte ich regelrecht, bekam Glücksgefühle und verstand plötzlich, warum so viele Menschen dem Charme der Online-Welt erliegen."
Vater James findet schließlich den geliebten Sohn Jeff, der bei seinem Freund Lenny Unterschlupf fand. Lenny ist Liedermacher und hat Jeff ins Auge gefasst, sein Manager zu werden.
Gerechtigkeit und Frieden für alle
Das Stichwort Song-Schreiber nahm Anthony McCarten als Überleitung für eine spontane Gitarren-Einlage auf. Das kam derart gut in Berleburg an, dass Claudia Schwarz (Sanitätshaus Kienzle) ein zwar verspätetes, aber umso überraschenderes Geburtstagsständchen zuteil wurde.
Auf die Frage, was wohl die nächste Revolution sein werde, der sich die Menschheit gegenüber sieht, antwortete Anthony McCarten mit einem Schmunzeln: "Ich bin kein Prophet, doch die Gleichheit aller Menschen, Gerechtigkeit und Frieden für uns alle. Vielleicht ist das Wunschdenken, aber machbar ist es, davon bin überzeugt."
Von Christiane Sandkuhl