Bad Berleburg. (cs) "Bevor es bei Euch hell wird" - lautet das Motto des diesjährigen Ehrengastes der Frankfurter Buchmesse. Neuseeland ist nicht nur geografisch gut 18.000 Kilometer von Deutschland entfernt, es liegt am anderen Ende der Welt, doch es ist nicht das Ende der Welt.
Neuseeland ist ein 4,5 Millionen Menschen zählender Inselstaat, wo nicht nur viel gelesen und gelebt wird – es wird auch eine Vielzahl an Literatur verfasst, gereimt, sinniert und produziert. Mit einem der bekanntesten und meistgelesenen Autoren des Landes konnte sich jetzt das Berleburger Literaturpflaster schmücken. Lloyd Jones stellte an einem ungewöhnlichem Leseort, in der Backstube der Bäckerei Wahl in Bad Berleburg, seinen 2010 erschienenen Roman "Die Frau im blauen Mantel" vor. Mit Originaltitel erschien das Werk im englischsprachigen Raum unter "Hand me down world".
Eine hitzige Lesung
Schon 45 Minuten vor Lesungsbeginn waren die Werkstatträume von Andreas und Carsten Wahl bis zum Rand gefüllt. Was üblicherweise die Öfen hervorrufen, entstand nun durch die dicht gedrängte und neugierige Zuhörerschaft: Hitze.
"Was wird der Neuseeländer erzählen? Ist es ein Werk, das auch grenzübergreifend Gültigkeit hat? Wie geht er arbeitstechnisch vor? Welches sind seine Motive und wie betrachtet er selbst den oder die Gegenstände seines Werkes?" Alles Fragen, die während seiner Präsentation in den gut 100 Köpfen kreisten und wissbegierig auf viel mehr machten, als nur die pure Berieselung mit dem Inhalt des Romans.
Reich an Metaphorik beschreibt Lloyd Jones darin einen Lebensabschnitt einer Frau, die sich selbst Ines nennt. In Leseauszügen erfahren die Zuhörer, dass diese junge Frau ein nicht ganz alltäglichen Werdegang erlebt. Eine Tunesierin mit recht heller Haut, die für sie von Vorteil sein soll, gelangt als Gerettete eines Flüchtlingsbootes zunächst eine Inhaftierung in Süditalien. Ihr einziges Ziel ist es nach Berlin zu gelangen, um ihr unehelich geborenes Kind sehen zu können, wofür sie stets einen hohen Preis mit viel Geld bezahlen muss.
Detailliert beschriebene Szenerie
Lloyd Jones flicht seine eigenen Beobachtungen im Ostteil Berlins ein, beschreibt das Leben bettelnder Zigeuner auf dem Alexanderplatz und in der Karl-Marx-Allee. Er besticht mit detaillierten Szenen, die Ungereimtes hervorbringen. So gelingt es ihm Ines als mysteriöse Erscheinung darzustellen. Die junge Protagonistin lässt er nicht als die Typische erscheinen, die bettelt oder stiehlt - ihr Auftreten beschreibt er als angedeutet distinguiert. Obwohl sie durchgängig geheimnisvoll bleibt.
Eine Dokumentarfilmerin wird auf sie aufmerksam, bietet ihr eine Wohnmöglichkeit in ihrem Haus und verschafft Ines somit einen Job bei einem emeritierten, erblindeten Akademiker als Haushaltshilfe. Stilistisch geht Lloyd Jones immer aus der Sicht eines Ich-Erzählers vor, was tiefe Seelenblicke verschafft und Gedankengänge vereinfacht. Jones bedient sich mannigfacher Persönlichkeiten, um Ines' facettenreiche Identität zu offenbaren. Mit dem Studenten Defoe, der ebenfalls im Haushalt des blinden Ralf lebt, legt Lloyd Jones eine völlig differenzierte Seite der Tunesierin frei. Vermutlich bestiehlt sie den Akademiker – dennoch kommt hier nicht klar und aussagekräftig ein Klischee zum Vorschein. Die Frage nach ethischen Hintergründen stellt sich hier genauso wie die Frage nach Schuld oder Unschuld.
Begnadeter Beobachter
Um Ines' Handlungen zu umschreiben bedient sich Jones einer impressionistischen Erzähltechnik, in der das Duale offeriert wird: Ines ist verzweifelt auf der Suche nach Möglichkeiten ihr Kind sehen zu können. Sie ist Opfer, komplex dargestellt, doch auch Täter. Sie nutzt auch Mittel, die nicht der Rechtmäßigkeit entsprechen, um ihrem Ziel näher zu kommen. Das Dilemma durchdringt das gesamte Werk.
Lloyd Jones ist ein begnadeter Beobachter der Welt, mit psychologischer Sicht, analytisch geht er vor. Seine Arbeitstechnik umschreibt er als sich offenbarend, er wählt Menschen, die ihm an irgendwelchen Orten des Globus begegnet sind, zieht aus Fakten und historischen wie politischen Elementen die Essenz. Die Geschichte entwickelt sich zunächst in seinen Gedanken selbst. Er strukturiert nicht im Vorfeld. Seine Vorgehensweise ist spontan, die Inhalte fließen. So entstehen seine Romane, stets sehr realitätsnah und glaubhaft. Seine stilistischen Mittel sind auf hohem Niveau angesiedelt, mit Spürsinn für den Leser und mit der Sicherheit des Autors, dass der Leser nach Aufklärung hungert.
Zwischen Gebäck und Erfrischungsgetränken, neben Teigformen und Backblechen war "Die Frau im blauen Mantel" ein mentaler Hochgenuss.
Auszüge der deutschen Übersetzung las Marlen Jourdan von der VHS Siegen-Wittgenstein sehr empathisch. Moderiert wurde die Lesung durch Stadtarchivarin Rikarde Riedesel, die im 19. Jahr des Berleburger Literaturpflasters der organisatorische Anlaufpunkt schlechthin für die überaus beliebte Veranstaltungsreihe in Berleburg ist.
Von Christiane Sandkuhl
Seine Werke sind in mehr als 30 Sprachen übersetzt
Geboren wurde Lloyd Jones am 23. März 1955 in Lower Hutt in Neuseeland. Zunächst arbeitete er nach seinem Studium als Journalist. Heute ist er Vollzeit-Schriftsteller. Obwohl er Zeit seines Lebens im Wellington-Areal wohnte, verbrachte er viele Auslandsaufenthalte in den USA, Moldawien, der Ukraine, Indien, großen Teilen Europas und auch als Aktiver der Katherine Mansfield Gesellschaft in Menton (Südfrankreich).
Unermüdlich arbeitet er an Romanen und literarischen Werken, die ihm schon eine Vielzahl von Preisen einbrachten – beispielsweise allein in 2007 den Booker Prize, den Commonwealth Writer's Prize oder den Pacific Prize for fiction. Seine Werke wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt. In Deutschland sind seine Romane "Mr. Pip", "The book of fame" oder "Here at the end of the world we learn to dance" am bekanntesten.
Während seiner Lesereise wird er noch in Berlin, Frankfurt, Heidelberg, Basel und Zürich lesen. Aktuell arbeitet er an seinem neuen Roman "The world before my face was made", zu deutsch: "Die Welt bevor mein Gesicht entstand".