Bad Berleburg also. Ich gebe zu, als Katharina und mich im Mai – mitten in den letzten Wochen mit unserem umfangreichen New-Adult-Roman – die Anfrage erreichte, ob wir Lesungen mit „unserem“ Autor Gabriele Clima moderieren und dolmetschen wollten, hatte ich keine Ahnung, wo diese Kleinstadt liegt und was das „Literaturpflaster“ ist. Tja, da ist mir all die Jahre etwas entgangen, wie ich inzwischen weiß. Aber der Reihe nach.
Gabriele Clima ist ein Autor, den ich sehr schätze, weil er in einer klaren, knappen Sprache Jugendbücher schreibt, die gerade die Jugendlichen ansprechen, die sonst ungern lesen. Denn seine Bücher sind nicht schlicht, sondern tiefsinnig, komplex aufgebaut und haben immer wieder Passagen, die Spielraum zur Interpretation lassen. (Was die Bücher übrigens bei aller Einfachheit nicht gerade einfach zum Übersetzen macht, aber das ist ein anderes Thema …) Bislang sind zwei seiner vierzehn Romane im Hanser-Verlag in der Übersetzung von Katharina und mir erschienen.
„Der Sonne nach“ war 2021 Prüfungslektüre an den Haupt- und Realschulen Baden-Württembergs, „Der Geruch von Wut“ steht in der Originalfassung „Black boys“ seit 2020 auf der White Ravens List.
Das Berleburger Literaturpflaster, ein Festival mitten im Grünen
Inzwischen weiß ich, dass ein engagiertes Team in dieser beschaulichen Kleinstadt mit großem Einzugsbereich seit über dreißig Jahren ein angesehenes und gut besuchtes Literaturfestival auf die Beine stellt. Stets rund um die Buchmesse und stets mit Autorinnen und Autoren aus dem jeweiligen Gastland. Dieses Jahr also Italien. Womit wir wieder zum Mai kommen.
Denn die Hauptorganisatorin Rikarde Riedesel, die in Bad Berleburg für Kultur und Erwachsenenbildung zuständig ist, war nach dem Lesen von „Der Sonne nach“ und „Der Geruch von Wut“ klar gewesen: Dieser Autor muss zum Festival kommen und er muss in so vielen Schulen wie möglich lesen. Und sie stieß mit ihrer Einladung auf offene Ohren, da Gabriele Clima die Jugend am Herzen liegt und er auch in Italien jedes Jahr etliche Lesungen in Schulen abhält. Er sagte also gerne zu – allerdings wünschte er sich eine italienisch-deutsche Moderation. Netterweise fragte das Festival direkt beim deutschen Verlag nach. Da Katharina und ich bei unseren Verlagen stets auf unsere Veranstaltungen mit der Weltlesebühne hinweisen, leitete man sie an uns weiter – was überhaupt keine Selbstverständlichkeit ist.
Die Frage, wer von uns fahren sollte, war schnell geklärt: Katharina moderiert und konzipiert gerne Literaturveranstaltungen, oft mit dem Thema Literaturübersetzung, stellt auch spannende Frauen aus der Buchbranche vor. Für die zweisprachige Moderation, wo es vorrangig um das Buch und die jeweiligen Autor*innen geht, bin in unserem Ü-Team ich zuständig.
Und so landete ich dann Mitte September in der Stadt mit einem malerischem Schloss und einer „Wisent-Wildnis“. Erst kurz vor der Anreise war mir klar geworden, dass Schullesungen morgens um 8 Uhr beginnen. Und dass neun Lesungen innerhalb von drei Tagen vor pubertierenden Jugendlichen, noch dazu aus allen drei Schultypen des deutschen Bildungssystems, schon eine anspruchsvolle Herausforderung sind. Ich gebe zu, in mir wuchs eine gewisse Nervosität, ob ich mir da nicht zu viel vorgenommen hatte.
Viel gelernt – und zwar nicht nur die Kids
Am Vorabend hatte sich bei der Autofahrt ab Marburg – anders kommt man kaum hin – aber gezeigt, dass ich in Gabriele Clima eine wunderbaren Unterstützung haben würde: Er hatte einige Passagen aus den Büchern herausgesucht, die er gerne bei seinen Lesungen vorstellt, ich fügte noch einige hinzu, die ich für besonders wichtig hielt – und schon war für die drei Tage das Grundkonzept erstellt.
In der Stadtbibliothek ging es los. Begleitet durch Rikarde Riedesel, die die deutschen Passagen las. Und was soll ich sagen? Es klappte prima. Gut, in der ersten Lesung des Tages waren einige der Schülerinnen und Schüler etwas müde, aber es kam bis zum Schluss keine Unruhe auf. Die Jugendlichen waren trotz der Sprachbarriere gefesselt. Ebenso in allen folgenden Lesungen. Also wirklich allen , in Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Was bestimmt auch an der empathischen Art des Autors lag.
Gabriele Clima berichtete viel aus seinem Leben und über seine Motivation, Bücher zu schreiben. Was auch für mich wahnsinnig interessant war, gerade auch als Übersetzerin seiner Bücher. Das Grundthema der beiden Romane ist Wut, da Clima selbst ein wütender, rebellischer Jugendlicher war. Erst Jahre später sollte er erfahren, dass er an ADHS litt und diese Störung ihm das Leben schwer gemacht hat. Gebannt erfuhren die Jugendlichen, dass er selbst nicht gerne gelesen hat, dafür aber schon mit zehn Jahren mit Tagebuch schreiben begonnen und so einen Weg aus der Gewalt gefunden hat.
Bei jeder Lesung erkundigte sich Clima bei den Jugendlichen, wie die italienischen Passagen auf sie gewirkt hätten. „Flüssiger“, „schneller“ kam mehrfach als Antwort. Besonders glücklich war ein Junge, ein Rom, als er seine fließenden Italienisch-Kenntnisse mit interessierten Rückfragen unter Beweis stellen konnte. Einen anderen Jungen musste Clima enttäuschen, da er trotz Wohnsitz Mailand keinen Sinn für Fußball und damit auch keine Präferenz für einen Verein hat. Am Ende einer Stunde kam die Rückmeldung „è stato bello“ von zwei Schülerinnen, die dafür extra die KI bemüht hatten, da sie selbst der Sprache nicht mächtig waren.
Gewalt ist die einfache Lösung für Wut
Für mich war besonders interessant, endlich ein paar Fragen klären zu können, für die während der Übersetzung einfach keine Zeit gewesen war. So stellte ich in jeder Klasse die Frage, was sich die Jugendlichen sich unter „Black boys“ vorstellen. Und wie erwartet kam zunächst die Antwort „Schwarze Menschen“, erst später, als sie etwas nachgedacht hatten, Menschen, die etwas gegen illegale Einwanderer haben. Clima erläuterte, dass für ihn die Farbe Schwarz vor allem auch die Finsternis in jedem von uns verkörpere. Eine Grundeigenschaft des Menschen wie Wut und Angst, die in Hass umzuwandeln einfach ist, aber mit Vernunft – und eben auch Worten – produktiv eingesetzt werden kann. Er meinte, dass er nur dadurch zum Schriftsteller werden konnte, eben weil er all diese Erfahrungen durchgemacht hat.
Wie gesagt, ich habe viel gelernt in diesen Tagen. Gabriele Clima recherchiert sehr intensiv für seine Bücher, ich konnte mich also auf sein Wissen verlassen. Auch über die Dynamik in Gruppen und zu Führungspersönlichkeiten hat er viel berichtet, die Jugendlichen aufzuklären ist ihm ein Anliegen. So ist mir nun einiges klarer, wieso Parteien im rechten Spektrum oder auch Trump und Konsorten solchen Zuspruch erfahren. Trotz offensichtlicher Fehlinformation der Anhängerschaft.
Fazit: eine großartige Erfahrung mit wunderbaren Menschen. Und dass ich an drei Tagen hintereinander neun Veranstaltungen konzentriert zweisprachig halten kann – das weiß ich nun auch.
Wer noch weiter zu unserem Aufenthalt lesen möchte: Die lokale Presse berichtete davon hier und hier. Eine der beteiligten Schulen lieferte ebenfalls einen Kurzbericht.
Zum Abschluss gab es noch Geschenke – einen künstlerisch gestalteten Pflasterstein und ein Glas tagesfrisch geschleuderter Honig von der Bienen-AG. Mit eigens für den Autor auf Italienisch getextetem Etikett.
Von Barbara Neeb