Alan Pauls las beim Literaturpflaster
aus seinem neuen Werk "Geschichte der Tränen"
Sätze, die ganze Welten erschaffen
Bad Berleburg. (akm) Argentinien ist Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse und Schwerpunktland beim Berleburger Literaturpflaster 2010. Für die 17. Auflage der Kulturreihe konnte die Stadt wieder hochkarätige Autoren für Lesungen gewinnen. Autoren wie Alan Pauls. Der preisgekrönte argentinische Schriftsteller hat sich mit seinem Werk "Die Vergangenheit" längst ins Bewusstsein des deutschen Publikums geschrieben. In Bad Berleburg las er am Mittwoch aus seinem neuen Roman "Geschichte der Tränen".
Dass es sich bei dem 143-seitigen Buch nicht um Bettlektüre handelt, merkten die Zuhörer schnell. "Geschichte der Tränen" ist anspruchsvoll. Erzählt wird die Kindheit eines namenlosen Protagonisten im Argentinien der 60er- und 70er-Jahre. Es ist eine Darstellung von Empfindsamkeit, eine "verstörende Episode der argentinischen Geschichte, die inmitten des lärmenden Getöses der Politik die leisen Töne des Privaten hörbar macht", wie der Verlag beschreibt.
Die Politik spielt nur eine untergeordnete Rolle, bildet jedoch den obligatorischen Rahmen, der auf sehr aparte Weise engstens mit der autobiografisch angehauchten Erzählung verflochten ist. Leser dürfen keine klimaxartige Handlung erwarten, die sich mit Spannung dem Höhepunkt nähert. Das Buch ist vielmehr eine Sammlung aneinandergereihter Assoziationen, Aufzählungen, die Bilder heraufbeschwören. Pauls möchte die Leser nicht durch detailliert erzählte Geschichten fesseln, sondern ihnen die Möglichkeit geben, selbst etwas zu projizieren.
Um das zu erreichen, verwendet der Autor Sätze, die sich gut und gerne schon mal über eineinhalb Buchseiten erstrecken. Verschachtelt bis ins Letzte, ohne Punkt, dafür mit reichlich Kommas. Es sind Sätze, die man zwei- oder dreimal lesen muss, um sie richtig verstehen zu können. Sätze, die ganze Welten erschaffen. "Ich möchte, dass die Welten in meinen Sätzen zu bewohnbaren Orten werden. Ich mag keine Sätze, die klingen, wie aus dem Lehrbuch abgeschrieben", erklärt Pauls.
"Geschichte der Tränen" zwingt mit Raffinesse zur Langsamkeit. Kustodin Rikarde Riedesel, die an diesem Abend durch das Programm führte, erklärte, für sie sei das Buch wie Slow Food: die Wiederentdeckung einer gemütlicheren Lebensart und des Genusses in einer Welt, die immer schnelllebiger wird und in der Langsamkeit absolut out ist.
Zweifellos beeindruckte der 51-jährige Südamerikaner die Gäste, wenn es auch schwerfiel, dem Vorgelesenen nur durch einmaliges Zuhören zu folgen. Doch die Zuhörer hatten nicht nur Applaus für den Argentinier übrig, sondern auch für Daniela Kreher, die den Abend als Übersetzerin für die nicht-spanisch sprechenden Gäste verständlich machte.
"Geschichte der Tränen" ist das erste Buch einer Trilogie. Die beiden Folgeromane "Geschichte des Haars" und "Geschichte des Geldes" werden mit Spannung erwartet. Denn Pauls, der in seinem Heimatland auch als Dozent für Literaturwissenschaft, Redakteur und TV-Moderator arbeitet, ist einer der Stargäste auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse.
Von Ann Kathrin Müsse