Referentin Jutta Nickel nahm ihre Zuhörer
mit in eine virtuelle argentinische Bücherei
"Literatur vom Ende der Welt"
Bad Berleburg. (vg) Um die Literatur Argentiniens verstehen zu können, müsse man sich zunächst ein Bild von jenem südamerikanischen Land machen, sagte am Dienstagabend Jutta Nickel, Mitarbeiterin der Deutschen Botschaft in Buenos Aires. Mit ihrem Vortrag "Literatur vom Ende der Welt – Argentinische Literatur ist mehr", war sie eigens aus Buenos Aires nach Bad Berleburg in die Kur-Apotheke Wolter gekommen, um einem interessierten Publikum im Rahmen des Bad Berleburger Literaturpflasters einen Überblick über wichtige argentinische Autoren, ihre Gedichte, Essays und Romane zu geben.
Das Land selbst könne leider nicht auf eine lange Geschichte zurückschauen – "Argentinien ist nämlich erst 200 Jahre alt". "Dafür gibt es in dem Land, das achtmal so groß ist wie die Bundesrepublik, alles zur gleichen Zeit: Sommer, Winter, Schnee und Urwald." Geprägt sei Argentinien von seinen Ureinwohnern, vielmehr noch von der Vielzahl der Einwanderer, die im 19. Jahrhundert hierher strömten und sich niederließen. "Heute hat im Grunde jeder Argentinier einen Großvater aus dem Ausland."
Unter Berücksichtigung dieser Tatsachen sei der Besuch einer argentinischen Bücherei von besonderem Reiz. "Und deshalb möchte ich Sie heute in meinem Vortrag einmal in eine virtuelle Bücherei in Buenos Aires mitnehmen", sagte Jutta Nickel mit einem Augenzwinkern. "Wen findet man überhaupt an Autoren in dieser Bücherei?", fragte die Vortragende, schaute in die Runde und gab dann die Antwort: "Geht man am ersten Regal entlang, so fällt der Blick direkt auf ein Buch von Ernesto Sábato." Jener bekannte Professor für Atomphysik habe vor allem mit seinem Roman "Der Tunnel" auf sich aufmerksam gemacht. "Und neben Ernesto Sábato finden wir Jorge Luis Borges, den argentinischen Vorzeigeschriftsteller." Seine fantastischen Erzählungen seien auch heute noch über die Landesgrenzen hinaus sehr begehrt.
Weiterhin lenkte die Referentin die Aufmerksamkeit ihrer "Büchereibesucher" auf Julio Cortázar und seinen irrwitzigen Roman "Himmel und Hölle", dessen 56 Kapitel immer wieder neu eine andere Leseweise zuließen, und kam schließlich auf die bekannten weiblichen Autoren des fernen Landes zu sprechen. "Welche Frauen finden wir in dieser virtuellen Bücherei? Ich will es Ihnen sagen. Allen voran: Victoria Ocampo, die Vorkämpferin für die Emanzipation." Doch auch Alejandra Pizarnik mit ihren bis zum Exzess getriebenen literarischen Themen wie Wahnsinn, Tod und Selbstmord und ihrem ebenso abenteuerlichen Leben, wollte Jutta Nickel ihren Zuhörern nicht vorenthalten.
Bei ihrem virtuellen Streifzug durch die Bücherregale Argentiniens unternahm die Referentin zugleich eine Reise in die Vergangenheit des Landes, orientierte sich von den modernen Autoren hin zu den "Klassikern" wie Robert Arlt und blieb schließlich vor den Büchern der Heimatschriftsteller Juan Ortiz und Horacio Quiroga stehen, ehe sie noch weiter in den Jahrzehnten zurückreiste und schließlich bei der von der Romantik geprägten Gaucho-Literatur ankam.
Mit jenen Werken, die das Leben der argentinischen Pferdehüter in der weiten Steppe verklärend darstellen, habe sich erstmals die typisch argentinische Literatur von der spanischen zu lösen begonnen. Doch gab es bereits argentinische Literatur vor der Gründung von Buenos Aires 1536? "Leider sind keine Schriften erhalten", bedauerte Jutta Nickel. "Dennoch finden wir noch ein letztes Buch in unserer virtuellen Bücherei, das uns auf die Frage nach den Ursprüngen Argentiniens eine Antwort gibt. Es ist das Buch eines Deutschen: eine Kriegsberichterstattung und Reisebeschreibung von Ulrich Schmidl über Südamerika, die 1567 erstmals in Frankfurt erschien."
Von den Ursprüngen schlug Jutta Nickel schließlich den Bogen zurück zur Gegenwart: "Aus all diesen Wurzeln wächst derzeit die aktuelle argentinische Literatur, an der drei verschiedene Generationen parallel schreiben", sagte sie. "Außerdem boomt die Literaturszene in Argentinien heutzutage ungemein."
Im Anschluss an den Vortrag überreichte Rikarde Riedesel, Kustodin der Stadt Bad Berleburg und Organisatorin des Berleburger Literaturpflasters, Jutta Nickel und Apotheken-Inhaber Karsten Wolter einen Literaturpflasterstein. Manuela Lippert, die pharmazeutisch-technische Assistentin der Kur-Apotheke, referierte – passend zum Thema Argentinien – über die medizinischen Vorzüge des argentinischen Nationalgetränks "Mate". Daniela Kreher, die Tochter der Referentin, bereicherte den Vortrag schließlich mit Lichtbildern. Für seine langjährige Berichterstattung über das Literaturpflaster wurde auch SZ-Redakteur Jens Gesper aus Feudingen mit einem Literaturpflasterstein ausgezeichnet.
Von Dr. Volker Gastreich