Bad Berleburg. (fhe) Das EJOT-Labor, die "Ideenschmiede" der Firma, beschrieb Rikarde Riedesel als wunderbaren Ort, neue literarische Produkte kennenzulernen. Und das dachte sich nicht nur die Organisatorin des Bad Berleburger Literaturpflasters, denn die Bestuhlung in der "EJOT Applitec" war bis auf den letzten Platz am Sonntagabend mit Literatur-hungrigen Menschen gefüllt. Einen Tag zuvor war Katja Kettu noch im TV auf 3sat zu sehen. 24 Stunden später saß sie in Bad Berleburg, um ihr neuestes Werk "Wildauge" vorzustellen.
Die aus Heidelberg angereiste Finnin ist durch ihre zahlreichen Lesetouren seit August nicht mehr zu Hause gewesen, "umso mehr freut es uns, sie heute Abend bei uns begrüßen zu dürfen", bemerkte Rikarde Riedesel, die mit der jungen Autorin auf Englisch kommunizierte und sie über den Abend gut verteilt, die ein oder andere Frage beantworten ließ.
Zu erzählen gab es nämlich einiges, denn die faszinierende Frau ist nicht nur Schriftstellerin. Studiert hat sie Computeranimationen, schreibt an einem Theaterstück und ist auch Filmemacherin. "Ob sie das alles auf einmal macht?", möchte man da wissen. Die vielseitige und sprachlich äußerst kreative Künstlerin versucht allerdings lieber, "eins nach dem anderen zu machen" und sich auf ihr jeweiliges Projekt zu konzentrieren. "Wenn ich an einem Roman schreibe, dann lebe ich auch in dieser Geschichte", erzählt die Frau mit den langen schwarzen Haaren, deren Arme das ein oder andere Tattoo schmückt.
"Wildauge" ist nicht nur der deutsche Titel ihres Romans, es ist auch der einzige Name, der ihrer Hauptfigur im Buch gegeben wird. Ihr Roman spielt in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, in dem man im Norden nicht nur mit einem Krieg zu kämpfen hat, sondern gleich mit drei Folgekriegen. Diesem Thema haben sich die finnischen Autoren lange nicht gewidmet, nun gebe es allerdings vor allem viele junge Autoren, die sich mit diesem Thema beschäftigen. "In dieser Zeit wurden Frauen mit Kontakten zu Deutschen als Spione stigmatisiert", berichtete Katja Kettu am Sonntagabend. Die 36-Jährige selbst hat keine Erfahrungen mit dem Krieg gesammelt, aber die Briefe ihrer Großmutter an ihre ältere Schwester und ihre Mutter haben sie sehr beeindruckt: "Darin wird ein so starker Überlebenswille deutlich, dass ich mich diesem Thema widmen wollte", erklärt sie die Wahl ihres historischen Hintergrundes.
Über eine kleine Kostprobe auf Finnisch von der Autorin selbst aus ihrem Werk dürften sich die Zuhörerinnen und Zuhörer natürlich auch gefreut haben. Den Rest der Lesung übernahm dann allerdings Marlen Jourdan von der Volkshochschule (VHS). In den ersten gelesenen Zeilen wird schon deutlich: Katja Kettu bedient sich einer mitunter vulgären, teils animalischen Sprache. Das musste sie tun, sagt sie, um "eine Brücke zu Lappland zu schlagen". Sie wollte die prüde Landschaft um Lappland herum visualisieren, daher sei ihr die Sprache sehr wichtig gewesen. Sie schreibt rau, düster – und zugleich ist ihr Roman auch von vielen erotischen Szenen durchzogen. "Wildauge" ist ihr bislang drittes Werk und von zahlreichen Neologismen (Wortneuschöpfungen) geprägt. Ihre Übersetzerin Angela Plöger wurde für ihre Dolmetscher-Arbeit von "Wildauge" bereits mit dem finnischen Übersetzerpreis ausgezeichnet. "Wildauge" ist Hebamme und sieht genau darin auch ihre Lebensaufgabe. Sie wird immer wieder gebraucht, ist aber auch gleichzeitig eine Außenseiterin. Die Menschen in ihrem Umfeld haben fast schon Angst vor ihr, da sie wie mit einem "dritten Auge" mehr zu sehen scheint und vor allem einen intensiveren Blick hat als andere. Die Menschen können ihrem Blick nicht Stand halten und schauen schnell wieder weg.
Man spricht ihr sogar eine mystische Kraft zu. Mit Mitte dreißig verliebt sich Wildauge zum ersten Mal in einen Mann, der sie wirklich ansieht und die Frau in ihr erkennt. Johannes ist ein traumatisierter SS-Offizier und für "Wildauge" Liebe auf den ersten Blick. Dass diese Liebe nicht ohne Komplikationen bleibt, ist vorprogrammiert. Ihr Roman zeigt allerdings auch, wie die Liebe zwischen zwei Menschen alles andere ausblenden kann – sogar den Krieg.
Von Franziska Henk