Bad Berleburg. Normalerweise wird im beschriebenen Veranstaltungsraum der Literaturlesung zum 21. Literaturpflaster geforscht, werden Ideen geschmiedet. Das Ejot Aplitec Labor ist jedenfalls weit entfernt von Büchern und Autoren – und dennoch ist das Schreiben von Büchern sehr eng mit Forschung und Wissen verbunden.
Die Veranstaltergemeinschaft der Kulturreihe "Literaturpflaster" ist für illustre Räume, für Besonderes und teils Gewagtes sehr dankbar. Rikarde Riedesel, die gemeinsam mit Marlen Jourdan von der Volkshochschule Siegen-Wittgenstein die Moderation und deutsche Übersetzung für die finnische Autorin Katja Kettu übernahm, versprühten Literarisches mit Fingerspitzengefühl. Die 36-jährige Katja Kettu befindet sich seit August auf Lesereise und ist seitdem nicht wieder daheim gewesen, eine Mammutaufgabe, die die jüngst aus Heidelberg angereiste Schriftstellerin belächelt.
Junge Schriftstellergeneration
Sie gehört zur jungen Generation finnischer Schriftsteller, die ihre Leser regelrecht in "die Mangel" nehmen. In Berleburg stellte sie einem großen Publikum ein ebenso großes Werk vor – ein Werk mit rauer Seele, rüder Sprache, archaisch, erdig und sinnlich zugleich. "Wildauge" ist Hebamme in Lappland. An sich nichts Besonderes, doch im Jahr 1944 prallen hier Welten aufeinander. Die Protagonistin begegnet dem jungen deutschen SS-Offizier Johannes Angelhurst und es ist um die mittlerweile 35-jährige Frau, die im gesamten Roman namenlos bleibt, geschehen. Den Mann will sie haben, hat sie vorher doch noch nie ein so entflammtes Gefühl für einen Mann gespürt. Er wurde abkommandiert, als Fotograf die finnischen Verbündeten zu porträtieren. Seine Eleganz, das Schweigsame, die Ausstrahlung imponieren ihr und so lässt sie sich, nachdem Johannes in ein Kriegsgefangenenlager abgeordert wird, dort als Krankenschwester hin versetzen. Es entbrennt in beiden eine wilde Leidenschaft. Im Umfeld des Lagers geschehen fürchterliche Dinge, die für den jungen SS-Mann nur mit Hilfe von Drogen zu ertragen sind. Er bedient sich des sogenannten Methadon-Opiates, das unter Soldaten "Adolfin" genannt wird, um die grausamen Zustände im "Kuhstall", einem Frauenlager ertragen zu können, um die gesamte Kriegsmaschinerie mental zu verarbeiten und vielleicht auch aus einem entschuldigenden Blickwinkel betrachten zu können.
Katja Kettu schont den Leser keineswegs. Ihre derbe, deftige Sprache, die gleichermaßen auch getränkt ist mit Symbolgehalt, fordert zu intensivem Hinschauen auf. "Ist dies fürchterliche Realität oder einfach hochtrabende Fantasie?" mag sich der Leser fragen. Katja Kettu ist Forscherin, sie gräbt, wühlt in der Landeshistorie, macht sich kundig bis ins kleinste Detail, um authentisch zu wirken – was ihr natürlich gelingt. Die Realität sah so aus, wie sie ihre Protagonisten ausstaffiert.
Ohne Romantik
Eine Frau, ungewöhnlich, in düsterer Zeit, weiß sich einem Mann erotisch zu nähern. Die Antwort ist, das was der Leser auch insgeheim hofft - Liebe. Doch die Umstände zu denen zwei Menschen hier zueinander finden, sind Lichtjahre von Romantik entfernt. Gefühle der Anziehung sowie gleichzeitig des Abgestoßenseins machen sich bereits beim Zuhören breit. Und doch, "Wildauge" fesselt alle Anwesenden, denn Katja Kettu ist eine Sprache gelungen, die hinabsteigen lässt gleichermaßen in die Welt des Krieges und der Emotionen. Sie schafft es, dass der Leser nicht nur liest, er erlebt jede Szene mit, durchschreitet dabei einen wilden Strom, der unbedingt mitreißt. Alles ist da, schonungslos bewegt sich Katja Kettu politisch und historisch korrekt und verweist mit wortgewaltiger Brillanz auf Moral und Vernunft. Bisweilen stößt das Werk ab, widert an, im gleichen Augenblick holt es zurück und fesselt. In diesem Tenor hat Katja Kettu auch stilistisch gearbeitet. Sie macht Sprünge, hält sich nicht daran durchgängig Szenen zu beenden. Immer wieder schafft sie Blenden und Blicke in die Charaktere und kitzelt hiermit die Neugier und Begierde auf das Ende der Liaison zwischen "Wildauge" und Johannes Angelhurst, das Finale des großen Kriegs-Liebes- und Historienromans. Nicht nur für Erwachsene, sondern wärmstens als historisch-literarisches Machwerk auch für die junge Schülergeneration zu empfehlen.
Von Christiane Sandkuhl
Eine Herausforderung für den Leser
- Katja Kettu liest vor abermals vollem Haus aus "Wildauge" zum Literaturpflaster.
- Die 36-Jährige bedient sich einer derben, aber auch moderaten Sprache.
- Sie geht im Roman nicht chronologisch vor, fordert mit Rückblenden den Leser heraus.
- Kriege, Historie und Politik verarbeitet sie in "Wildauge" bemerkenswert authentisch.