Bad Berleburg. (schn) Das "Berleburger Literaturpflaster" hat immer wieder Überraschungen parat. Das gilt alljährlich für die Veranstaltungsorte und auch immer für die Autoren. Zwei dieser Überraschungen kamen am Montagabend zusammen. Rosa Liksom las in der Halle der Firma Baustoffe Rompel aus ihrem Buch "Abteil No. 6". Es passte zusammen, dass der Protagonist des Buches ein sowjetischer Bauarbeiter ist, ein Metaller, wie er sich selbst nennt, auf dem Weg in die Weiten Sibiriens. Begleitet wird er von einer jungen Frau aus Finnland, die das gesamte Buch über keinen Namen bekommt, die nur ganz am Ende einen einzigen Satz sagt und doch eine zentrale Rolle im Roman einnimmt.
Durch ihre Augen erlebt der Leser Vadim, den Bauarbeiter, der Leser erfährt aus ihrem Inneren, erlebt Bewertungen, Wahrnehmungen, Eindrücke der russischen Landschaft, über die junge Frau selbst aber erfährt man so gut wie nichts. Es sei kein Zufall, sondern volle Absicht, dass das so sei, sagte Rosa Liksom selbst. Sie habe einen Teil der russischen Geschichte, besser gesagt der sowjetischen Geschichte darstellen wollen. So wie auch sie sie erlebt habe. Der Fokus liege auf Vadim, die junge Frau sei eigentlich gar nicht so wichtig.
Die Autorin hat sich viel Arbeit mit dem Buch gemacht, sie hat ein dichtes Bild der sowjetrussischen Gesellschaft gezeichnet. Dafür hat sie sich sechs Jahre lang Zeit gelassen, hat nach eigenen Aussagen 150 Bücher über russische Geschichte, Geografie und Kulturforschung gelesen, ehe sie mit der eigentlichen Geschichte begonnen habe.
Vadim ist ein zwiespältiger, ja zwielichtiger Charakter. Er, Mitte vierzig, hat die meiste Zeit seines Lebens im Arbeitslager verbracht. Für den Mord an seiner Frau musste er 25 Jahre hinter Gitter. Für die junge Frau eine bedrückende Situation. Vadim ist grobschlächtig, brutal, ja primitiv. Auf der anderen Seite ist er ein begnadeter Geschichtenerzähler. Er beschreibt sein Leben in großen Worten. Ihm sind alle Klassiker der russischen Literatur geläufig. In der UdSSR keine Seltenheit. Er mischt diese Geschichten mit seinen eigenen. Und er übernimmt Verantwortung für die junge Frau. Vadim führt sie durch eine für sie fremde Welt.
Schnell stellt er fest, dass die junge Frau nur das Leben der sozialistischen Eliten kennt. "Er fasst den diabolischen Plan, ihr das wahre Leben zu zeigen", sagt Rosa Liksom dazu. Natürlich versucht der Macho Vadim, sich an die junge Frau heranzumachen, doch sie weißt ihn zurück. Sein Frauenbild ist voller Klischees und dabei genauso grobschlächtig wie er selbst.
Neben der Beziehung dieser beiden so unterschiedlichen Menschen beschreibt Rosa Liksom die Landschaften Sibiriens detailgenau. Sie ist in der Lage, mit ihren Worten Bilder zu malen. Da kommt der Autorin entgegen, dass sie selbst Fotografin und Comiczeichnerin ist. Die Bilder der Landschaften sind beeindruckend, an der Bewertung ihrer Charaktere scheiden sich die Geister. Während die einen Kommentatoren die Tiefe der Charaktere loben, kommen den anderen Kritikern die Personen nicht wirklich nahe.
Diese Diskussion passt zur Beschreibung von Rosa Liksom als Lady Gaga der finnischen Literatur. Die 1958 geborene Autorin studierte in Helsinki, Kopenhagen und Moskau Anthropologie und Sozialwissenschaften. Einigen Kritikern gilt sie als skurril, ja gar als schrill. Sie produziert sich nonkonformistisch als Gesamtkunstwerk und tritt zum Beispiel bei ihren Vernissagen mit ihrer dunklen Sonnenbrille jedes Mal performancemäßig in einem anderen unkonventionellen Outfit auf.
In Bad Berleburg zeigte sie sich tiefgründig, ließ die Besucher der Lesung in ihre Gedankenwelt einsteigen, erklärte genau, wie ihre Geschichte entstanden ist, welche Bilder sie zeichnen wollte. Zeitweise lachte sie selbst über ihre Gedankengänge, ertappte sich dabei, zu viel zu verraten, machte dann aber munter weiter. Wer die Art ihrer direkten Sprache mag, wird an dem Buch Gefallen finden. Es war eine interessante Lesung am Montagabend, die Rosa Liksom zur Moderation von Rikarde Riedesel bot. Die deutsche Stimme lieh der Autorin Otto Marburger, der Passagen aus "Abteil No. 6" las.
Von Guido Schneider