Bad Berleburg. (schn) "Literatur auf Rezept" nennen die Organisatoren des Bad Berleburger Literaturpflasters die jährlich wiederkehrende Einführung in die Literatur des Gastlandes in der Kur-Apotheke. Und dass Literatur tatsächlich eine gute Medizin sein kann, das bewies am Mittwochabend Prof. Dr. Ralf Schnell, Schirmherr der Veranstaltungsreihe in diesem Jahr, auf beeindruckende Weise. Der ehemalige Rektor der Uni Siegen outete sich als Fan der brasilianischen Literatur und nahm seine Zuhörer mit auf einen Streifzug durch einen eigenen literarischen Kontinent. "Ich denke, das ist das Beste, was wir hier je gehört haben", befand Otto Marburger nach der Veranstaltung im SZ-Gespräch.
Ralf Schnell hatte zuvor von literarischen Mikrokosmen berichtet, von den Eigenheiten der brasilianischen Literatur, von ihrer Vielfältigkeit und ihren unterschiedlichen Strömungen. Dabei beeindruckte die Gabe des Redners, in kurzen Sätzen Unmengen an Informationen zu verpacken, ohne dabei die Zuhörer zu überfrachten. Ralf Schnell brachte den Zuhörern die Literatur eines Landes näher, dessen Bücher und Themen in Mitteleuropa wohl in dieser Form eher weniger auf der Agenda stehen.
Auffällig war die Zahl der avantgardistischen Autoren, beeinflusst durch die europäische Großstadtliteratur, die in Brasilien offensichtlich ihre ganz eigenen Blüten getrieben hat. Ignácio de Loyola Brandão ist wohl so etwas wie das Enfant terrible dieser Bewegung. Sein Roman "Zero" (zu Deutsch: "Null") steht beispielhaft für die avantgardistische Literatur Brasiliens. Der Roman ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich: Das Layout wechselt, hat Einschübe und Kästen, springt in der Handlung, scheint seinen roten Faden zu verlieren. "Dieses Buch macht uns Arbeit", sagte Ralf Schnell, der bekannte, durch dieses Buch zum Fan der brasilianischen Literatur geworden zu sein.
"Null" hinterlasse den Leser verändert und bewirke im besten Sinne das, was Literatur könne, so Schnell. Der Roman fordere geradezu heraus, sprunghaft zu lesen, Seiten auszulassen und wieder zurück zu blättern. "Zero" sei in Text und Layout ein einzigartiges Buch, sagte Ralf Schnell. Die Berleburger dürften sich somit glücklich schätzen, Ignácio de Loyola Brandão zum Literaturpflaster als Gast zu haben. Dem Redner und Literaturwissenschaftler merkte man seine Begeisterung deutlich an.
"Zero" beschreibt das Leben in der Megalopolis São Paulo zur Zeit der Militärdiktatur, beleuchtet viele Facetten und kreist immer wieder um das Thema Gewalt, die schonungslos dargestellt wird. "Für zartere Gemüter macht es Sinn, Seiten zu überspringen, namentlich, wenn es um Folter geht", sagte Schnell.
Hart zur Sache geht es auch in Patricia Melos Krimi "Leichendieb". Das Werk stehe in der Tradition der US-amerikanischen "Hard-Boiled Novels", hat aber keinen Detektiv als Hauptperson, sondern einen Durchschnittsbrasilianer, der zum Kriminellen wird und am Ende doch noch mit heiler Haut davon kommt. Auch hier sind wieder Sex, Drogen, Korruption und Gewalt die Themen und bilden den Rahmen für die Handlung – typische Motive für die moderne brasilianische Literatur.
Dennoch hat dieses Land eine sehr vielfältige Szene, wie Ralf Schnell immer wieder unterstrich: "Es gibt nicht die brasilianische Literatur." In der Entwicklungsgeschichte spielten die Regionen eine wichtige Rolle, wie auch die soziale Herkunft und die politischen Rahmenbedingungen. Eine Gemeinsamkeit vieler Autoren, quer durch die Geschichte, sei eine Vergangenheit als Journalist. Vielleicht hat sich auch deswegen die Form der "Chronicas" entwickelt, einer ganz eigenen Erzählform.
Die Anfänge einer eigenständigen brasilianischen Literatur seien nicht klar festzumachen, so Ralf Schnell, sicher sei aber, dass die Kirche eine wichtige Rolle gespielt habe. Die Jesuiten des 18. Jahrhunderts brachten die Rhetorik zu ihrer Blüte. Später wurden die Heroisierungen der indigenen Bevölkerung und der Sklaven zu Themen der europäisch beeinflussten Romantik.
Als Gegenbewegung entwickelte sich am Ende des 19. Jahrhunderts eine antiromantische Bewegung, die von der realistischen Literatur Englands beeinflusst wird. Das 20. Jahrhundert brachte eine avantgardistische Szene hervor, geprägt von den riesigen Städten des Landes, realistisch in der Betrachtung, relativistisch, zeitweise zynisch und satirisch, bewusst brechend mit den traditionellen Strukturen bis zur Gestaltung des Drucks.
Ein ganz wichtiger Faktor war auch die Militärdiktatur, die eine starke Politisierung des Szene bewirkte. Es gebe literarische Inseln, so Ralf Schnell, die Vielfältigkeit sei ein ganz zentrales Merkmal des brasilianischen Literaturbetriebs. Diese Vielfalt spiegeln auch die Autoren wider, die nach Bad Berleburg kommen werden. "Echte Hochkaräter" nannte Ralf Schnell die Auswahl.
Ihre Werke stellte der Literaturwissenschaftler ausführlich vor und baute einen Spannungsbogen auf, der sicherlich viele Interessierte in die Lesungen des Literaturpflasters ziehen wird.
Von Guido Schneider