Luiz Ruffato feierte Deutschlandpremiere
beim Literaturpflaster

Stimme der Nichtgenannten

Hoher Besuch aus Brasilien: Luiz Ruffato (l.) und sein Übersetzer Michael Kegler stellten in Bad Berleburg Ruffatos neues Buch 'Mama, es geht mir gut' vor. (SZ-Foto: Anja Helmbrecht)

Bad Berleburg. (ahe) Glanz in Bad Berleburg in etwas nüchternem Ambiente: Das 20. Berleburger Literaturpflaster feierte am Dienstagabend in der Cafeteria der Odebornklinik die Deutschlandpremiere von Luiz Ruffatos vor kurzem auf Deutsch erschienenen Werk "Mama, es geht mir gut". Es ist das zweite Buch des Shootingstars der Frankfurter Buchmesse, übersetzt von Michael Kegler.

Darin schildert Ruffato Lebensgeschichten der arbeitenden unteren Mittelschicht Brasiliens im Binnenland von etwa 1950 bis 2000. Aber nicht nur das: Er erzählt auch vom Wandel einer ganzen Nation, die sich in nur 50 Jahren von einem Agrarstaat zu einer postindustriellen Gesellschaft mit "Raubtierkapitalismus" (Ruffato) veränderte. "Mama, es geht mir gut" ist der erste Band des insgesamt fünfbändigen Romanzyklus’ "Vorläufige Hölle".

Der Autor, ein freundlich und bescheiden wirkender Mann Anfang 50, und sein Übersetzer, Michael Kegler, sitzen im kalten Licht der geschlossenen Cafeteria an einem Tisch, das mit Herbstlaubservietten und Blumengesteck dekoriert ist, und haben viel Mikro und Verstärker um sich. Zum Veranstaltungsort, den rund 40 interessierte Hörer aufgesucht haben, bemerkt der Autor freundlich, dass man daran sehe, dass Literatur überall stattfinden könne. Zudem freue er sich, dass "Mama, es geht mir gut" im deutschen Binnenland vorgestellt würde, in einer etwas kargen, hügeligen Landschaft, die Ähnlichkeiten mit der Landschaft von Minas Gerais habe, der Landschaft des Romans.

Autor und Übersetzer lesen abwechselnd Auszüge aus den Lebensgeschichten der armen arbeitenden Bevölkerung, der vielen Migranten, die in der Literatur Brasiliens ansonsten nicht vorkommen. Schonungslos beschreibt Ruffato die patriarchalen Strukturen und den Machismo, die Entbehrungen, die Härte und Rohheit des Alltags und die oftmals grausige Brutalität des Lebens im Hinterland. Erzählt von der Selbstjustiz eines Vaters, von den endlosen Schwangerschaften der Frauen, den schlechten Chancen der Kinder, dem Chaos, den vielen Toten, den Hoffnungslosen und ihren unerfüllten Sehnsüchten und Überlebensstrategien.

Diese Überlebensgeschichten montiert er in kurze Kapitel, die fortlaufend, aber auch in anderer Zusammenstellung gelesen werden können. Sie haben einen verblüffenden Ton: Der Klang des Schusses in seiner ganzen Unfassbarkeit ist eindrücklicher als die Tatsache, dass hier ein Vater seine Tochter erschießt, die sich auf einen fahrenden Händler einließ. Das Geklingel der Fahrradglocken nimmt den Leser mit in die ausgelassene Heiterkeit des Feierabends, auf den sich die Jungen aller Erbärmlichkeit zum Trotz stürzen. Die Sprache ist satt und süffig, die Bilder, die Ruffato schafft, sind von unglaublicher Farbigkeit, einprägsam und klar. Sie eröffnen neue Räume, in denen die Schilderungen des Elends erträglich werden, ohne dass sie naturalistisch betulich oder vorführend wären oder gar anklagend.

Ähnlich auch in seinem Debütroman "Es waren viele Pferde", 2012 ebenfalls im Berliner Verlag "Assoziation A" erschienen. Darin schildert der Autor in 69 Stationen einen Tag in der Megametropole São Paulo. Er erzählt von Menschen, die auf der Suche nach einem besseren Leben, einer neuen Liebe stranden, von den Mühen des Alltags und der allgegenwärtigen Präsenz der Gewalt.

Luiz Ruffato ist ein politischer Autor, der die Missstände seines Landes in den letzten Tagen sehr präzise beschrieben hat. Dafür wurde er von den einen gefeiert, die anderen nannten ihn einen Nestbeschmutzer. Wie auch immer man dazu stehen mag, beeindruckend ist, dass er seiner Vision folgt: Er schenkt den Nichtgenannten einen festen Platz in der Literatur, er schenkt aber auch das Glück des Lesens weiter und die Erfahrung, dass Literatur, ja, das jede Kunstform, das Leben verändern kann.

In einem Interview anlässlich der Buchmesse äußerte Ruffato, dass er keine Hoffnung hege, dass die brasilianische Literatur in Zukunft eine wichtigere Rolle spielen werde. Das wäre bedauerlich, denn es braucht Autoren mit einer inneren Haltung. Was damit gemeint ist, schildert Ruffato eindrucksvoll im letzten Absatz seiner Eröffnungsrede, die er vor ein paar Tagen auf der Frankfurter Buchmesse hielt: "Ich glaube, vielleicht naiv, daran, dass Literatur etwas verändern kann. Als Kind einer Analphabetin und Waschfrau, eines des Lesens fast unkundigen Popcornverkäufers, selbst Popcornverkäufer, Kassierer, Verkäufer, Textilarbeiter, Dreher, Inhaber einer Imbissbude, wurde mein Leben verändert durch den, wenn auch zufälligen Kontakt mit Büchern. Und wenn das Lesen eines Buchs den Weg eines Menschen verändern kann, und wenn die Gesellschaft aus Menschen besteht, kann Literatur eine Gesellschaft verändern. (…) Ich will den Leser berühren, ihn verändern, die Welt ändern. Das ist eine Utopie. Ich weiß. Aber ich lebe von Utopien. Weil ich denke, dass die letzte Bestimmung jedes Menschen nur eine sein sollte: das Glück auf Erden zu erreichen. Hier und jetzt."

Von Anja Helmbrecht


Siegener Zeitung (17.10.2013)
Internet: www.siegener-zeitung.de
Bildquelle: SZ-Foto von Anja Helmbrecht (ahe)

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