Mit Ignácio de Loyola Brandão
kehrt das Literaturpflaster
zu seinen Anfängen im Kurhaus zurück

Schneewittchen machte ihn zum Autor

Der brasilianische Autor Ignácio de Loyola Brandão las im ehemaligen Bad Berleburger Kurhaus, das heute ein technisches Labor der EJOT-Gruppe beherbergt. Hier im Bild mit Michael Kegler (l.) und Rikarde Riedesel. (WP-Foto: Herbert Kleinbruckner Art.Ur)

Bad Berleburg. Kraftvoll, humorvoll, ernst – und glaubhaft, ein Mann seines Volkes ist Ignácio de Loyola Brandão, heute 77 Jahre jung. Der brasilianische Autor las am Donnerstagabend im ehemaligen Bad Berleburger Kurhaus, das heute ein technisches Labor der EJOT-Gruppe beherbergt.

"Ich war neun Jahre alt, spindeldürr, arm, hässlich. Wie alle Menschen wollte ich beachtet, gestreichelt, geliebt werden. Die Mädchen sollten mich sehen, wie sollte ich das schaffen. Ich verliebte mich, heiß und innig – in Schneewittchen". So berichtet Ignácio de Loyola Brandão davon, wie alles begann.

"Ich las dieses Märchen und von einem zum nächsten Augenblick veränderte sich meine Welt. Ich hasste die Zwerge, deren Sklave sie war. Sie putzte für sie, wusch sie, streichelte sie. Sie sollte nur mir gehören", so Brandão. "Einmal in der Woche schrieben wir einen Aufsatz in der Schule, freies Thema. Das war meine Chance. Ich schrieb die Geschichte neu und tötete die sieben Zwerge. Die Lehrerin las immer den Aufsatz vor, der ihr am besten gefiel. Alle Blicke hefteten sich auf mich, die Jungen lachten, die Mädchen schauten mich groß an. Ich wusste nun, wie ich Mädchen verführen konnte und hatte meine Berufung gefunden."

In der Diktatur aufgewachsen

Wer ist dieser Autor? Ignácio de Loyola Brandao wurde 1936 in São Paulo geboren und ist gelernter Redakteur. In Phasen der Diktatur und einem 21-jährigen Militärregime ab 1964 wuchs er in Unterdrückung, militärischer Willkür und Hass auf. Ab 1964 saß immer ein "Beobachter" des Regimes in seiner Redaktion, der jeden Artikel zensierte. So gewöhnte sich Ignácio an, jeden Schnipsel unbequemer Nachrichten aus dem Land und der Weltpolitik in eine Schreibtischschublade zu legen. Nach ca. einem Jahr, so resümierte er, hatte er an die 1.000 Zettel und nach sechs Jahren unzählbare. Er begann sie zu lesen und so wuchs die Idee, alles zusammenzufassen, so bruchstückhaft, so fragmentarisch, wie diese Zettel nun mal waren. Er erfand seinen Protagonisten José. Welchen Beruf, welche Berufung sollte er haben? Ignácio erzählte: "Ich kaufte mir ein belegtes Brötchen, ging ins Kino, legte das Brötchen neben mich auf die Bank, da mich der Film fesselte. Irgendwann nahm ich ein Rascheln neben mir wahr und sah eine Ratte, die von meinem Brötchen fraß. Am Ausgang fragte ich, warum keiner die Ratten vertreibt. Dafür sei kein Mensch da. So fand ich den Beruf meines José. Er wurde Rattenvernichter."

Zeuge des Widerstands

"Null" lautet der Titel des Buches, in dem José versucht, ein würdiges Leben zu führen. Er zieht vom Land in die Stadt, um Jura zu studieren. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen wird er Rattenvernichter in einem Kino. Mit der Zeit verändert sich unter den menschenunwürdigen Verhältnissen in der Stadt sein Leben, wechselt seine Jobs. Er will lieben, scheitert, er will einen ehrbaren Beruf ausüben und scheitert. So wird er zum Verbrecher und zuletzt wird er über der Wüste aus einem Flugzeug gestoßen.

Null steht für den Wert des einzelnen in diesem Regime. José steht stellvertretend für die Drangsalierten, Ohnmächtigen, dem Staat ausgelieferten Menschen. Dieser bitterböse und doch humorvolle Roman, an dem der Leser sich aufgrund der etwas sperrigen, fragmentarischen Schreibweise die Zähne ausbeißen kann, ist ein Zeugnis des Widerstandes, wie Ignácios sagt: "Ich bin einfriedliebender Mensch, hasse die Gewalt, aber mit diesem Buch habe ich eine Bombe gelegt. Ich habe nie an den Erfolg dieses Buches geglaubt." Tatsächlich wurde es zuerst in Italien (1974) verlegt, erst ein Jahr später in Brasilien, um dann wieder verboten zu werden. Inzwischen war es aber so bekannt, dass Schüler und Studenten es kopierten und weiter verbreiteten. Ja sogar, so Ignácios, habe er erlebt, dass auf dem Land Schüler das Buch mühsam abschrieben und es so weiter gaben.

Hommage an Ray-Güde Mertin

Die Trauer um diese Agentin, die Ignácios viele Jahre begleitete, die ihm zur guten Seele seiner Literatur und ihm als Mensch wurde, war deutlich zu spüren. Er widmete diesen Abend in Bad Berleburg Ray-Güde Mertin und sein Übersetzer an diesem Abend, Michael Kegler, der sie als seine Lehrerin betrachtete und auch Rikarde Riedesel betrauerten, dass sie so früh starb und nicht hier sein konnte, um diesen Augenblick des "back to roots" mitzuerleben. Sie war die Frau der ersten Stunde, die neben Gerd Gerhard, Rikarde Riedesel und Burkhard Hupe das Experiment "Literaturpflaster" in Bad Berleburg wagte und namhafte Autoren hierher einlud.

Vermisst wurde auch Curt Meyer-Clason, der ebenso für Ignácio übersetzte und ihn oft begleitet. Dieser schrieb auch das Nachwort in "Null", dem Prähistorischen Roman, Frankfurt/Main 1982, S. 381. Die Lesung endete mit herzlichem Applaus für einen unterhaltsamen Abend und mit der Überreichung des nun schon traditionellen Pflastersteins an Christian Kocherscheidt, dem Chef von Ejot, an Michael Kegler, an Ignácio Loyola Brandao, an Gerd Gerhard, an Burkhard Hupe und mit einem herzlichen Dankeschön von Bettina Born an Rikarde Riedesel, die die Seele des Literaturpflasters par excellence ist.

Von Herbert Kleinbruckner Art.Ur


WESTFALENPOST (12.10.2013)
Internet: www.derwesten.de/staedte/bad-berleburg/
Bildquelle: Foto von Herbert Kleinbruckner-Gautam (Art.Ur)

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