Bad Berleburg. "Es ist, wie wenn der Urlaub anfängt", strahlt Stadtarchivarin Rikarde Riedesel in die erwartungsfrohe Publikumsrunde an ungewöhnlichem Kulturveranstaltungsort – im Bau-Fachhandel Rompel am Hilgenacker. Es ist die erste Buchlesung des 20. Bad Berleburger Literaturpflasters, Gastland Brasilien. Das südamerikanische Land wird natürlich gern in unseren mitteleuropäischen mit Sommer, Sonne und Strand gleichgesetzt, also Urlaub. Doch es ist vielmehr als das – Brasilien hat eine unerschöpfliche Kultur, in die auch die mannigfaltige Literatur eingebettet ist.
Ort der Lesung: ein Fachmarkt
Der 40-jährige Autor Michel Laub wurde im südbrasilianischen Porto Alegere geboren, einem der größten Kulturzentren des Landes. Gemeinsam mit seinem deutschen Übersetzer Michael Kegler (geb. 1967) und Organisatorin Rikarde Riedesel hat er nun sein sechstes Werk und gleichzeitig seine erste deutsche Übersetzung "Tagebuch eines Sturzes" in Bad Berleburg vorgestellt.
Sehr gut besucht war die Verkaufshalle des Fachmarktes – und bereits 20 Minuten vor Lesungsbeginn kein freier Sitzplatz mehr zu ergattern. Mit Sicherheit liegt das auch am Autor. Michel Laub ist einer der jüngeren Autoren Brasiliens, sehr erfolgreich hat er einen Ruf vorausgeschickt in die Welt und ist auch dem deutschen Fachleser kein unbeschriebenes Blatt mehr. Eine Reihe von literarischen und journalistischen Preisen kann er sein Eigen nennen, dennoch bekennt er. Von der Schriftstellerei als Buchautor zu leben ist recht schwierig. Laub hat als Journalist ein stabiles Standbein, betreibt eine Kolumne, ist häufig auf Lesereise und schult Interessierte. Seit geschätzt einem Jahr kann er tatsächlich von der Schriftstellerei leben, an einem Nachfolge-Werk des in Berleburg vorgestellten arbeitet er bereits.
"Tagebuch eines Sturzes" stellt eine Großvater-Vater-Sohn-Konstellation dar, um die sich die Lebensgeschichte des Großvaters, der Auschwitz überlebt hat, sowie die Vater-Sohn-Bindung wiederfinden. An Michel Laub als Jude wurde häufig die Frage der autobiografischen Verarbeitung gestellt, die er nicht negiert, sie allerdings beschreibt als eine Ausarbeitung. Seine Erklärung zeigt: Er hat in der Tat sehr nah an der Realität gearbeitet, jedoch, und das geschieht wohl jedem Autor, der diese Form wählt, die Inhalte werden gefärbt mit Alltagsbegegnungen und Ausschmückungen der beschriebenen Momente.
Michel Laub nimmt die Lebensgeschichte des Großvaters auf, die fast ausschließlich aus Schweigen besteht. Er wählt den Enkel, in der Ich-Erzählform, der den Großvater nie persönlich kennengelernt hat und reicht es dem Leser in Tagebuch-Form. Es thematisiert die Problematik Alzheimer-Erkrankung (Vater), Alkoholismus und Auschwitz (Großvater) im Kontext des Schweigens über diese Tatsachen.
Fantastische Puzzleteile
Der Autor (Ich-Erzähler) arbeitet hier in Schüben, wie er es nennt und stellt zum Rückblick auf das Leben des Großvaters die Beziehung zum eigenen Vater her – der ihm, dem Enkel, mit größter Anstrengung eine Ausbildung ermöglicht in wirtschaftlich schwieriger Zeit. Parallel zur Familienverbindung gibt es da sie Freundschaft zum 13-jährigen Mitschüler, den der Protagonist während des Hochwerfens bei der Bar-Mizwa-Feier fallen lässt und durch ihn schwere Wirbelsäulen-Verletzungen zufügt. Ganz klar kristallisiert sich in allen drei betrachteten Lebensgeschichten die Frage der Schuld heraus – Schweigen über den Holocaust, über den späteren Suizid des Großvaters, über das Unverarbeitete, den Fall in den Alkoholismus, das Totschweigen der Alzheimer-Erkrankung und die Mitverantwortung an der Verletzung des Bar Mizwa-Mitschülers Joao.
Die Beschreibung des "Drei-Generationen-Sturzes" veranlasst zum tiefen Nachdenken, zum Sinnen über den Holocaust-Nachfahren Michel Laub mit deutschen und jüdischen Wurzeln. Das Werk erhält den hohen Unterhaltungswert aufgrund seiner kohärenten Anlage, dies ist Michel Laub meisterlich gelungen. Er hat die Abschnitte durchnummeriert und schafft somit fantastische Puzzleteile.
Ende offen, bitte selbst lesen
Das Ende haben Autor Laub, Übersetzer Michael Kegler und Moderatorin Rikarde Riedesel offengelassen. Natürlich sollen Interessierte das Buch kaufen und lesen. Jedenfalls erhält es vom Publikum schon mal die Auszeichnung "sehr wertvoll". Während der anschließenden Fragerunde gibt Michel Laub zu, dass es für ihn herausragend ist, dieses Werk als erstes ins Deutsche zu übersetzen – die Verbindung zur Historie im 20. Jahrhundert erscheint ihm überaus sinngerecht.
Von Christiane Sandkuhl