Bad Berleburg. (bea) Der 40-jährige Michel Laub gilt in seinem Heimatland Brasilien als einer der wichtigsten Autoren seiner Generation. Er ist der Enkel eines jüdischen Auschwitz-Überlebenden. Sein Großvater war nach Brasilien ausgewandert und hatte seit dieser Schiffsreise versucht, jede Erinnerung zu verweigern. Michel Laub arbeitet heute als Journalist und Schriftsteller.
Als er vor seinem fünften Roman stand, hatte er mit weißen Papieren und leeren Bildschirmen zu kämpfen. "Es war die Unmöglichkeit zu erzählen, was schon so oft erzählt wurde", erklärte er am Donnerstag in Bad Berleburg. Also fertigte er Listen an von Erinnerungen, Begebenheiten und Dingen, die er über seinen Vater und seinen Großvater wusste. Hieraus entstand sein Buch "Tagebuch eines Sturzes", das er auf Einladung der Kulturgemeinde bei der ersten Lesung im Rahmen des 20. Literaturpflasters im Baustoffhandel Rompel am Hilgenacker vorstellte.
Das erste Kapitel, "Einige Dinge, die ich über meinen Großvater weiß", las der Originalübersetzer Michael Kegler. Alle drei Hauptfiguren des Romans sind Tagebuchschreiber. Der Großvater schreibt, um sein Trauma aus dem Konzentrationslager nicht zur Sprache bringen zu müssen. Er wehrt sich gegen die Erinnerung und schafft sich auf dem Papier seine Welt, wie sie sein sollte. Als sein Sohn gerade 14 Jahre alt ist, nimmt er sich das Leben. Das Scheitern an Sprache und Erinnerung zieht sich wie ein Fluch durch alle drei Generationen. Der Sohn erkrankt an Alzheimer und beginnt dadurch selbst, Leben und Vergangenheit auf Papier festzuhalten. Der Enkel, aus dessen Sicht erzählt wird, stürzt im Alter von 40 Jahren und nach zwei gescheiterten Ehen in den Alkoholismus. Auch er fängt an aufzuschreiben. Aber nur so gelingt es ihm, aus dem Nicht-Reden herauszufinden.
Michel Laub selbst schreibt seinen Roman in Form eines Tagebuchs. Jede Erinnerung ist durchnummeriert, es kommt zu Wiederholungen zwischen den Kapiteln, was eine ungewöhnliche Ironie schafft. Über alle Konsequenzen des KZ-Traumas stellt er letztendlich eine Frage: "Für welche Sündenfälle des Lebens ist man selbst verantwortlich?"
Durch die Lesung führte die Bad Berleburger Kustodin Rikarde Riedesel, die Michel Laub durch kluges Nachfragen die entscheidenden Sätze entlockte. "Das ist mein bestes Buch", sagte Laub. "Es ist ein Buch über Entscheidungen, die man im Leben treffen muss." Doch handele es sich keinesfalls um eine Autobiografie. "Dieses Buch ist autobiographisch, wie jedes Buch autobiographisch ist. Aber das Wesentliche, die Protagonisten, sind erfunden", so übersetzte Michael Kegler den Autor aus dem Portugiesischen.
Ein Thema, über das "schon so oft erzählt wurde", hat Michel Laub in einer ganz persönlichen und kraftvollen Form verarbeitet. Dem vielköpfigen Publikum fehlten zum Schluss die Fragen, der einzige Wunsch war eine Zugabe. So freute sich Laub am Ende über große Nachfrage nach seinem signierten Werk, bevor er mit dem Bad Berleburger Literaturpflasterstein im Gepäck seine Lesereise fortsetzte. Auch Michael Kegler nahm einen Pflasterstein mit, der dritte ging an den Baustoffhandel Rompel, der sich auch in Zukunft gerne wieder als Leseort zur Verfügung stellen will.
Von Beatrix Achinger