Zuvor hörten die Zuschauerinnen und Zuschauer im Abenteuerdorf einen Abschnitt des Buches auf Slowenisch, Goran Vojnović las seinen Text selbst im Original, in seiner Sprache vor. Wobei er mit seinen Eltern eigentlich Serbokroatisch spricht: mit seiner Mutter, die aus dem kroatischen Teil Jugoslawiens nach Ljubljana kam, und mit seinem Vater, dessen Geburtsstadt heute im serbischen Teil von Bosnien-Herzegowina ist. In dieser Aufzählung fehlt dann nur noch die Tatsache, dass die Vorfahren von Goran Vojnovićs Mutter aus Galizien, einem Gebiet, das jetzt in Südpolen und der Westukraine liegt, nach Istrien gekommen waren. Bei einem geographisch solch diversen Familien-Stammbaum drängt sich einem Dichter natürlich das Thema „Identität“ als Aufgabe auf. Gerade weil der 1980 in Ljubljana geborene Autor zwar als Kind aus der recht sicheren slowenischen Perspektive, aber doch schon bewusst die Implosion seines Heimatlandes Jugoslawien im furchtbaren, oft barbarischen Balkan-Krieg mitbekam. Und dann lebten die Verwandten plötzlich in anderen Ländern.
Identität ist ein perfekter Schriftsteller-Stoff. Das Werk „18 Kilometer bis Ljubljana“ könnte man auf den ersten Blick für ein etwas zu üppig geschneiderten Stück nach einem allzu groben Schnittmuster halten. Permanent wirft der Endzwanziger Marko Đorđić als Hauptperson der Geschichte mit Fäkalsprache und ungefähr jeder Vokabel des politisch-inkorrekten Wortschatzes um sich. Aufgewachsen in einem Plattenbau-Ghetto der slowenischen Hauptstadt Ljubljana, dem Auffangbecken für all die Balkanesen, die so anders als die gestriegelten und geschniegelten Slowenen waren, kommt der Protagonist nach einem erzwungenen zehnjährigen Exil in der bosnischen Serben-Republik zurück in das scheinbar immer aufgeräumtere Ljubljana. Es wird viel geredet und geschrien im Buch, und doch gibt es kaum eine Kommunikation. Schimpfwörter sind keine Hilfe, immer wieder gibt es Konjunktive und vermutete, nicht ausgesprochene Unterstellungen, was die anderen denken, meinen, sagen wollen. Doch mit dem scheinbar groben Schnittmuster hat Goran Vojnović handwerklich ausgezeichnet und filigran eine wunderbare Geschichte geschneidert.
Wer den sehr reflektierten Schriftsteller bei der Lesung im Abenteuerdorf, in seinen Antworten auf Rikarde Riedesels Fragen oder auch im anschließenden persönlichen Gespräch erlebte, war ein wenig erstaunt, wie so jemand einen so vermeintlich groben Klotz wie Marko Đorđić erdenken konnte. Aber es braucht solche Protagonisten, vielleicht gerade wieder mehr denn je. Goran Vojnović hatte den Eindruck, dass sein Debütroman „Tschefuren raus!“ in 2008 solch ein Erfolg war, weil er ironisch auf das Konzept „Nationalismus“ schaute. Nach den vielen Krisen in den vergangenen Jahren, sei es bei den Banken und im Finanzbereich, wegen Corona oder des Krieges, sehnten sich die Menschen jetzt wieder mehr nach dem festen Halt in einer Gemeinschaft. Da bietet sich erneut der Nationalismus an, der vor 30 Jahren den Balkan implodieren ließ. Auch wenn das letzte Kapitel des vorgestellten Buchs „Weshalb Serbien das Finale gewinnen wird“ heißt, waren es die Slowenen, die 2017 im Basketball-Endspiel gegen Serbien siegten. Mit einem Mannschafts-Kapitän, dessen Vater Serbe ist. Die Mutter des deutschen Basketball-Mannschafts-Kapitäns stammt übrigens aus Ghana. Spätestens an der Stelle wird klar, dass unsere Einteilung in Nationen nur ein weltliches Hilfs-Konstrukt ist, um die Menschen, die alle Geschöpfe nach Gottes Ebenbild sind, einzuordnen. Und da schließt sich ein Kreis mit dem Abenteuerdorf, das ja eine Einrichtung des Evangelischen Kirchenkreises Siegen-Wittgenstein ist.
Von Jens Gesper