Vom französischen Mythos bis zur Apokalypse
Mit einer mentalen "Tour de France" eröffnet Prof. Dr. Ralf Schnell das 24. Berleburger Literaturpflaster
Bad Berleburg. Zwischen medizinischen Kosmetikprodukten und kleinen Petrischalen voll Lavendelblüten hechtet Prof. Dr. Ralf Schnell von Berg zu Berg. Im übertragenen Sinne. Mit einer symbolischen "Tour de France" eröffnet der ehemalige Rektor der Universität Siegen das 24. Berleburger Literaturpflaster in der Kur-Apotheke Wolter."Es wird nicht einfach. Sie werden viel Ausdauer brauchen", sagte Schnell. Er soll Recht behalten. In einem zweistündigen Streifzug durch die französische Gegenwartsliteratur fasst er 23 Romane zusammen, hinter denen 23 verschiedene Biografien stehen. Und wer geht als Sieger der "Tour de France" hervor?
"Es wird nicht einfach. Sie werden viel Ausdauer brauchen."
Prof. Dr. Ralf Schnell, zum Auftakt der "Tour de France" des 24. Berleburger Literaturpflasters
1. Bergetappe
Laurent Binet: "Die siebte Sprachfunktion"
Es ist ein Krimi mit Poststrukturalisten im Frühjahr 1980 in Paris. Roland Barthes wird überfahren, unter dem Arm trägt er ein Manuskript – mit der siebten Sprachfunktion, in Anlehnung an die sechs Sprachfunktionen von Roman Jakobson. Diese siebte Funktion ist so machtvoll, dass sie Politiker in Rhetorikkünstlern verwandelt und sie so Wahlen gewinnen. Das Problem: Nach dem Unfall – oder war es ein Anschlag? – bleibt das Manuskript mit der siebten Sprachfunktion verschwunden. "Ein Spiel zwischen Kriminalgeschichte und Theorie, in der es um narrative Strukturen, Sex und Verfolgungsjagden geht", so Schnell.
2. Bergetappe
Jean-Marie Gustave Le Clézio: "Sturm"
Verdichtete Erzählstränge, in der Vergangenes und Gegenwart miteinander verknüpft werden. "Le Clézio ist ein Kosmopolit, der in verschiedenen Welten zuhause ist", so Schnell. Und das hat auch Auswirkungen auf die Geschichte einer Muscheltaucherin auf einer Insel im japanischen Meer. Die Grenzen zwischen Mythos, Märchen und Realität: verschwimmend.
Zeitfahren
Boualem Sansal: "2084 – Das Ende der Welt"
Der politische Status Quo wird auf das Jahr 2084 hochgerechnet – die Parallelen zu George Orwells "1984" sind nicht nur im Titel wiederzufinden. Der islamistische Staatsapparat unterdrückt seine Bürger, eine apokalyptische Vision, die dem Horror der Gegenwart gegenübertritt. "Sansal macht das viel radikaler als Houellebecq in ‘Unterwerfung’ – da bleibt kein Platz für Satire", resümiert Schnell.
Schluss-Spurt
Emmanuelle Pirotte: "Heute leben wir"
Eine Erzählung aus den Zeiten des Zweiten Weltkriegs, die zeigt, wie Menschen verrohen – wie aber auch Menschliches überlebt. Ein SS-Soldat, der ein jüdisches Mädchen verschont und stattdessen seinen Kameraden erschießt; "das könnte an Kitsch grenzen – aber das Ganze ist vollkommen unpathetisch erzählt." Das Bemerkenswerte: Pirottes Großeltern haben selbst ein jüdisches Kind im Zweiten Weltkrieg versteckt.
Resümee
Keiner der vorgestellten Autoren bekommt das gelbe Trikot übergezogen. Einen Gesamtsieger gibt es trotzdem: die französische Kultur. "Sie ist reich an Exotik, Mythen, Utopie, sie beleuchtet gesellschaftliche Brüche und Identitätskrisen – "und dabei stehen ideenreiche und begabte Autoren im Mittelpunkt, Frauen und Männer gleichermaßen", hält Prof. Dr. Schnell fest. Ein Konzept, wovon sich die Besucher bei den kommenden Literaturpflaster-Veranstaltungen in Berleburg überzeugen können. Vorausgesetzt, sie bringen genügend Ausdauer mit.
Von Britta Prasse
Studium der Philosophie und Germanistik
- Ralf Schnell studierte Germanistik, Theaterwissenschaft, Philosophie und Publizistik an der Universität Köln und an der Freien Universität Berlin.
- Er promovierte (1976) und habilitierte (1978) an der Universität Hannover.
- Von 2006 bis 2009 war Schnell Rektor der Universität Siegen.

WESTFALENPOST (09.09.2017)
Internet: www.wp.de/staedte/wittgenstein/
Bildquelle: WP-Foto von Britta Prasse