Bad Berleburg. (schn) Emmanuelle Pirotte hat einen ganz besonderen Roman mit nach Bad Berleburg gebracht. Der belgischen Drehbuchautorin ist mit "Heute leben wir" ein Werk gelungen, das weit mehr ist als ein historisch authentischer und zugleich autobiographischer Roman, sondern das zugleich auch die menschliche Seele und ihre Zerrissenheit zu Kriegszeiten in den Blick nimmt. In den Hallen der Berleburger Schaumstoffwerke las Marlen Jourdan aus der deutschsprachigen Fassung des Romans, während Rikarde Riedesel durch den Abend führte.
Die Geschichte dreht sich um Renée, ein jüdisches Waisenmädchen, das von Franzosen vor der Wehrmacht versteckt wird, und um Matthias, einen SS-Mann, eine Tötungsmaschine, die durch Renée ins Wanken gerät. Basis der Erzählung ist die Geschichte der Großeltern Emmanuelle Pirottes. Sie haben während des Zweiten Weltkriegs etwas getan, das sehr viel Mut erforderte: Sie haben ein jüdisches Kind versteckt. Renée ist sechs, vielleicht sieben Jahre alt, so genau weiß sie das selbst nicht. Ein jüdisches Mädchen ohne Eltern, das im letzten Winter des Zweiten Weltkriegs in den Ardennen vor den Deutschen versteckt wird, erst bei den Nonnen, dann bei Bauern, schließlich bei einem Pfarrer.
Lange Zeit geht alles gut, doch dann passiert das, was auf keinen Fall geschehen darf, sie fällt den Deutschen in die Hände. Der Pfarrer glaubt, sie den Amerikanern zu übergeben, doch im Jeep sitzen zwei getarnte SS-Männer.
"Deutsch. Das war Deutsch, keine Frage. Sie kannte die Sprache derer, die ihr niemals über den Weg laufen durften, genau. Sie hatte sie nur zweimal gehört, aber niemals könnte sie diese Sprache mit einer anderen verwechseln. Sie stach wie ein Strauß Brennnesseln, sie hatte die Farbe, die Konsistenz eines Eisblocks", schreibt Emmanuelle Pirotte in ihrem Buch.
Keine acht Seiten dauert es, da ist die Handlung schon voll im Gange. "Heute leben wir" kommt ohne langes Vorspiel aus. Die beiden Deutschen wollen das Mädchen erschießen. Der eine zögert, der andere hat keine Skrupel, Renée überlebt ein wenig wunderhaft.
Matthias heißt der Soldat, der nicht auf das Mädchen, sondern auf den Soldaten schießt. Er hat vor dem Krieg einige Jahre als Trapper in der kanadischen Wildnis gelebt. Matthias ist kein Nazi, er ist eine Tötungsmaschine. Er ist gebildet und gleichzeitig barbarisch, und Matthias fragt sich die gesamte Handlung hindurch, wie er in seine Situation gekommen ist. Renée begleitet ihn, er wird ihr Beschützer, gegen seinen Willen und doch tut er es aus Überzeugung.
"Heute leben wir" ist eine kleine, intensive Geschichte mit zwei interessanten Hauptfiguren, gut geschrieben. Man spürt, dass hier eine Drehbuchautorin am Werke war. Die Sprache, in der Übersetzung von Grete Osterwald, ist klar, detailliert, präzise. Die Szenen erscheinen vor dem Auge des Lesers; "Heute leben wir" ist ein Drehbuch für beeindruckendes Kopfkino.
Von Guido Schneider