"Mehr als Repression"
Bei Miriam Collée machten Zwischentöne die Musik auf dem Literaturpflaster
Bad Berleburg. (jg) Westliche Ausländerin geht in den Fernen Osten, bekommt einen Kulturschock und schreibt ein Buch darüber, in dem die Chinesen inklusive ihrer Realität ganz schlecht wegkommen - und der geneigte Leser im Westen lehnt sich in der Gewissheit, in der besseren Welt zu leben, zurück und lacht sich kaputt. So könnte man Miriam Collées selbst erlebtes Buch "In China essen sie den Mond" zusammenfassen, wenn man die rund 260 Seiten oberflächlich gelesen hat. War man am Sonntagabend allerdings bei der Literaturpflaster-Lesung der Hamburgerin, die seit Sommer 2008 in Shanghai lebt, kam man zu einem ganz anderen Ergebnis. Und das lag unter anderem an der Wärme, mit der Miriam Collée in ihren Zwischenbemerkungen über die Menschen in China sprach.
Kein Sitzplatz war mehr frei in der Caféteria der Berleburger Odeborn-Klinik, gut 60 Zuhörer hörten der Journalistin zu, die mit viel Sprachgefühl und einem sicheren Gespür für Pointen ein unterhaltsames Buch geschrieben hat. Das erste Kapitel, das sie vortrug, drehte sich einmal um ihre ersten Berührungen mit Shanghai. Hörte sich alles ziemlich furchtbar an, zum nächsten Kapitel über das förmliche Ankommen in der 19-Millionen-Leute-Stadt, leitete Miriam Collée dennoch mit folgendem Satz über: "Wie Sie wissen, sind wir trotzdem gegangen. Zum Glück."
Tiefere Einblicke in die chinesische Gesellschaft gewährte sie mit zwei anderen Kapiteln aus ihrem Buch. In dem einen versuchten Akademiker-Eltern samstags in einem Park ihre überfälligen Single-Kinder an den Mann oder an die Frau zu bringen, weil diese selbst vor lauter Arbeit nicht dazu kamen. In dem anderen ging es um Menschenrechte. Anschaulich schilderte Miriam Collée in ihrem Buch, wie ihre ursprüngliche Schwarz-Weiß-Sicht der chinesischen Realität mehr Kontraste bekam: "Aber meine Güte, es gibt hier so viel mehr als Repression, Politwillkür und Produktpiraterie."
Und als sie das Thema mit ihrer Sprachlehrerin diskutierte, stellte diese das Wort "Menschenrechte" in einen ganz anderen Zusammenhang: "Ist nicht das erste und wichtigste Menschenrecht, am Leben zu bleiben? Genug Essen und Frieden zu haben und zu wachsen?" Und genau das habe die kommunistische Partei in China geschafft, nachdem in dem Land 150 Jahre lang Chaos geherrscht habe und die Lebenserwartung vor 60 Jahren noch bei 37 Jahren gelegen habe. Heute liege sie bei 72 Jahren. Gewiss, das ändert die Menschenrechts-Probleme in China nicht, aber Miriam Collée vermittelt in ihrem Buch einen anderen Standpunkt als den üblichen - und das war gut so. Schließlich besagt eines der chinesischen Sprichwörter, die jedem Kapitel im Buch vorangestellt sind: "Ein rollender Stein setzt kein Moos an."
Von Jens Gesper