Chinesische Literatur ist eine Gratwanderung

Mit 'Roter Mohn und roter Staub, von Revolten und Träumen' hielt die Schweizer Literaturwissenschaftlerin Alice Grünfelder (r.) einen bewundernswerten Vortrag über die Gegenwartsliteratur Chinas. (WP-Foto: Christiane Weinhold)

Literaturpflaster: Weisheiten und Lehren rund um den Globus

Bad Berleburg. (cw) Die Lesungen zum traditionellen Berleburger Literaturpflaster in den Räumlichkeiten der Kur-Apotheke sind schon seit sieben Jahren eine feste Größe. Literatur-Apotheker Karsten Wolter geht die Einführungen in seiner pharmazeutischen Lokalität stets mit informativem Humor an. Diesjährig konnte er erstmals den Blick auf die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) und den damit verbundenen Drogen-Rohstoffen richten, bevor Alice Grünfelder die Brücke zur Landesliteratur schlug.

Nach einer Buchhändlerlehre hat die Schweizerin Alice Grünfelder in Berlin ihre Studien in Sinologie und Germanistik aufgenommen und schloss sie 1995 ab. Als DAAD-Stipendiatin ging sie für zwei Jahre nach Chengdo in der Provinz Sichuan in China. Nach mehreren Aufenthalten in Asien, speziell aber in Tibet, ging sie nach Berlin und gründete dort eine Agentur für asiatische Literaturen. In der Berleburger Kur-Apotheke machte sie die 60 wissbegierigen Zuhörer mit 3.000 Jahren Literatur und Überlieferung vertraut.

Mit, wie sie es selbst beschrieb, Siebenmeilenstiefeln überlieferte sie schriftstellerische Streiflichter des ostasiatischen Riesenlandes. Der wohl bekannteste chinesische Philosoph, Konfuzius (551 - 479 v. Chr.), auch Kong-Tse, führte die sehr lange Liste der Literaten an. Ihm schenkte Frau Grünfelder eine besondere Bedeutung, da seine Lebensweisheiten und die Lehren rund um den Globus, aber insbesondere im westlichen Abendland, zustimmenden Anklang finden. Seine Texte in Dialogform waren und sind für Philosophiestudenten in China absolutes Muss. Seine Maximen beeinflussten insbesondere die mächtige, 55 Nationalitäten umfassende Han-Dynastie über Jahrhunderte, die die Ordnung in allen Lebensbereichen des Menschen als unumgehbaren Inhalt propagierte. Die konfuzianische Idee prägte die Staatsideologie Chinas bis in die Neuzeit hinein, im speziellen ist hier die mit Mao Tsedongs Regierungszeit ab 1949 genannte Kulturrevolution.

"Lass die Gesellschaft hinter dir!" Dieser krasse Gegensatz wird von Laotse als höchste Forderung an das Wesen des Menschen verstanden. Worte, die in der Umsetzung keinesfalls mit der Lehre Konfuzius' konform gehen. Immer wieder tauchen Ziele dieser Kultur auf und beeinflussen Literaten aller Folgejahrhunderte.

Generell spezialisiert sich der chinesische Autor auf die Publikation von Episodenromanen, deren Inhalte fernab der deutschen Machart weder Höhe- noch Tiefpunkte ihr Eigen nennen. Einen wahren Hochseilakt vollführte der Autor Lu Xun mit seinem "Tagebuch eines Verrückten". Er wandt China den Rücken zu, ging nach Japan und erteilte seiner Heimatliteratur eine radikale Absage, indem er dem Konfuzianismus einen kannibalischen Charakter vorwarf. Für die westliche Welt genießt er einen hervorragenden Ruf und eignet sich besonders als Einstiegsautor in die chinesische Literatur.

Alice Grünfelder gab in ihren Exkursen dem Zuhörer reichlich Bedenken hinsichtlich der sozialistischen Staatslenkung Maos und den damit verbundenen Menschenrechtsverstößen gegen Regimekritiker, die in Massen in Konzentrationslagern vergleichbaren Einpferchungen barbarischen Lebensbedingungen ausgesetzt waren und es vermutlich auch heute noch sind. Aufgrund dieser Tatsachen entstanden in der Gegenwartsliteratur Romane wie z.B. "Brüder" von Yu Hua, eine tragikomische Geschichte, über die Schrecken der Kulturrevolution, den Ekel und die Sehnsucht nach dem Glück im neuen China.

Nach Maos Tod entstand eine Art "Narbenliteratur", die sich mit der vorsichtigen Liberalisierung Chinas bis heute auseinandersetzt und mutige Autoren wie die im US-Exil lebende Tibeterin Rebiya Kadeer mit "Die Himmelsstürmerin" nicht zur Ruhe kommen lässt. Zahllose Autoren leben heute noch unter Hausarrest mit Publikationsverbot in China immer die Gratwanderung ihrer Lebensziele vor Augen, die in krassem Gegensatz zum kommunistischen Gedankengut stehen.

Nachdenken aber auch Gesprächsgrundlagen wurden hier von Alice Grünfelder geschaffen, deren weites Feld eine unendliche Diskussion hätte werden können.

Von Christiane Weinhold


WESTFALENPOST (18.09.2009)
WP-Foto: Christiane Weinhold (cw)

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