Xinran erzählte aus dem durch die Kulturrevolution zerrissenen Land
Gesellschaft auf
Füsse geschaut
Literaturpflaster "China" präsentierte erste Autorin, und Julia Jäger las.
Bad Berleburg. (jg) Am Montagabend lernten knapp 100 Zuhörer in einer proppenvollen Berleburger "Schloss-Schänke" auf dem Literaturpflaster Frau Xie kennen. Eine etwa 50-jährige Frau, die selbst wegen ihres vermeintlich reichen Hintergrunds in den Zeiten der Kulturrevolution nicht studieren durfte. Stattdessen buckelt sie sich tagtäglich als Flickschusterin ab und steckt jeden Yuan in die Ausbildung ihres Sohnes und ihrer Tochter an den besten Universitäten. Frau Xie lässt nicht mit sich feilschen, sie will kein Trinkgeld und pflegt einen duldsamen, scheinbar gleichmütigen Ansatz, bis die Fassade bröckelt: "Nach dem Essen brach Frau Xie plötzlich in Tränen aus und sagte: »Seit achtundzwanzig Jahren hat uns nie jemand besucht oder mit uns gegessen! Die Städter schauen auf uns herab, keiner respektiert uns, wir werden nicht einmal wahrgenommen!«"
Diese anrührende Geschichte über eine intelligente Flickschusterin, die eine Gesellschaft anhand ihrer Schuhe und Füße analysieren kann, hat Frau Xue festgehalten. Veröffentlicht wurde sie schlicht und einfach unter ihrem Vornamen Xinran und mit dem Titel "Gerettete Worte - Reise zu Chinas verlorener Generation." Auf über 600 Seiten stehen Geschichten wie diese, die Xinran auf ihrem Weg quer durch das Land gesammelt hat. Die gelernte Journalistin hatte über Jahre hinweg Kontakte zu älteren Menschen aufgebaut, deren Existenz entscheidend von der chinesischen Kulturrevolution geprägt war.
Nun mag sich der geneigte Leser im Westen denken: Prima, dass das mal aufgeschrieben wurde, so hört man mal 'was aus dieser fremden Welt. Aber die Chinesin, die 1997 kurz vor ihrem 40. Geburtstag nach England auswanderte, hat das Buch eigentlich für eine andere Zielgruppe geschrieben: für alle jüngeren Menschen in China, speziell für ihren eigenen 21-jährigen Sohn und außerdem auch noch für sich selbst. Anschaulich berichtete sie auf dem Literaturpflaster von der Sprachlosigkeit, die etwa zwischen ihr und ihrer eigenen Mutter herrscht. "Sie hat mir das Leben gegeben, aber keine Liebe." Diese Entfremdung zwischen den Generationen - die Aktiven und Passiven der Kulturrevolution zum einen, die Nachgeborenen zum anderen - bereiteten Xinran Gedanken. Auch weil sie noch mehr scheinbar unüberwindbare Kluften sieht: zwischen den Armen und den Reichen, zwischen der Landbevölkerung und den Städtern. Genau wie es Frau Xie gespürt hatte.
In einer unglaublich dichten Atmosphäre stellten drei Frauen dieses Buch in Bad Berleburg vor. Neben der Autorin Xinran waren noch Margarete von Schwarzkopf vom NDR als Moderatorin des Abends und die Schauspielerin Julia Jäger, die noch aus den ungebundenen Druckfahnen des Buches vorlas, vor Ort. Denn eigentlich kommen die "Geretteten Worte" erst in knapp anderthalb Wochen auf den Markt. Der Verlag hatte es dennoch möglich gemacht, dass die Besucher der Berleburger Literaturpflasters indes schon das nagelneue Buch kaufen konnten. Die Drei sind ein eingespieltes Team, bereits vor zwei Jahren waren sie bei Lesungen mit Xinrans Roman "Die namenlosen Töchter" unterwegs. Eine Stunde vor dem Berleburger Termin hatten sich die Drei erstmals wieder getroffen. Im Schnelldurchgang hatte sich Julia Jäger die im Buch benutzten chinesischen Namen erläutern lassen und die passende lateinische Umschrift zwischen die Zeilen geschrieben. Wann immer sie Wörter wie Xi'an-Jiaotong-Universität oder Qinghua vorlesen musste, strich ihr Xinran mutmachend über die Schulter. Auch dieses Miteinander machte das Besondere des wunderbaren Abends aus.
Drei Schlussbemerkungen müssen noch sein. Erstens: Xinran hat mit 50 Menschen gesprochen, nur die 79-jährige Medizinfrau Yao Popo fand die Kulturrevolution gut, weil Krankenhäuser und Universitäten schlossen, kamen die Leute stattdessen zu ihr. Zweitens: Wann immer man abwertend von Flickschusterei spricht, sollte man sich an diese geschickte Handwerkerin Frau Xie erinnern. Drittens: Bei aller Kritik an China findet Xinran, dass ihre alte Heimat generell auf dem richtigen Weg ist, sie müsse nur die tiefen Klüfte zwischen Alt und Jung, Arm und Reich, Land und Stadt überwinden, und das sei allein durch Bildung zu schaffen.
Von Jens Gesper