In Shanghai ist vieles nur reine Fassade
Miriam Collée berichtet über ihr dreijähriges Abenteuer in China
Bad Berleburg. (cw) Was macht ein junges Ehepaar, das eigentlich schon alles hat, was das Herz begehrt - gutbezahlte Jobs, ein schönes Haus am Rande Hamburgs, eine quietschlebendige Tochter Amélie, ein mit Liebe erfülltes Leben? Sie stürzen sich in das Abenteuer, drei Jahre in Shanghai zu verbringen.
Ihrem gewagten Unternehmen hauchte die ehemalige Stern-Journalistin Miriam Collée jetzt im Rahmen des Berleburger Literaturpflasters in der bis auf den letzten Platz besetzten Caféteria der Odebornklinik bei der Lesung aus ihrem autobiografischen Werk "In China essen sie den Mond" frischen Insider-Wind ein.
Spannend war für die kleine Hamburger Familie, die aus beruflichen Gründen des Vaters Tobias 2008 das Experiment einging, schon die Ankunft in Shanghai. Ihre Erwartungen mussten die drei sofort herunterschrauben. Shanghai ist nicht das, wofür Europäer es immer halten - progressiv, technisch auf dem höchsten Entwicklungsstand, sauber und hochmodern.
Miriam Collée weiß wovon sie spricht. Vieles ist reine Fassade, massenhaft Kitsch, verdrängte alte chinesische Lebensphilosophie. Architektonisch hatten sich die Collées auf ein Appartement im Luxusstil orientiert, für europäische Verhältnisse mit 4.000 Euro ein horrender Preis für einen Schuhkarton, der nach vier Jahren möglicherweise droht zusammen zu brechen, weil die baulichen Anforderungen durch stümperhafte Arbeit und mangelndes Know-how der Tagelöhner keinesfalls mit denen in Deutschland vergleichbar sind.
Sie orientieren sich um. Mieten sich in einer "Lane" einer alten Shanghaier Wohngegend ein. Für Miriam Collée gewöhnungsbedürftig, weil es in jedem dieser Viertel eine Nachbarschaftsvorsteherin gibt, die alles beaufsichtigt, was sich tut. Die Menschen dort kennen nicht die häusliche Grundausstattung wie Bad und Küche mit allen Annehmlichkeiten des Lebens inklusive der Wahrung von Intimität. Sie waschen sich in Schüsseln oder Waschbecken, die außen am Gemäuer befestigt sind und leben die familiäre Gemeinschaft auf der Straße.
Miriam Collée, die fortan als "Nur-Ehefrau", einer sogenannten Tai-Tai lebt, betrachtet ihren Aufenthalt in China als zweite Pubertät oder als erste Psychotherapie. Das Alltagsleben gestaltet sich in der Anfangsphase für die jungen Eltern nervenaufreibend. Die tägliche Fahrt zum Einkaufen und zum Arbeitsplatz übernimmt ein angestellter Fahrer, da jeder, der in Shanghai Auto fahren möchte, vor Ort eine Fahrprüfung absolvieren muss. "Die Strapaze wollten wir in Anbetracht der Verkehrsflut nicht auf uns nehmen", berichtet die Autorin. Der junge Chinese Fang wird engagiert und steht nunmehr den ganzen Tag als Chauffeur zur Verfügung. "Ich habe mich in die Reihe der Radfahrer eingefügt, das geht zwar auch nur mit Staus und sie bekommen viel Staub und Abgase mit, dennoch tut es der Kommunikation gut", ist Miriam Collée stolz.
Im Allgemeinen sind die Shanghainesen ein gesprächiges Völkchen, immer mitfühlend, sehr sozial eingestellt. Das wird sich absehbar in den nächsten Jahrzehnten wandeln. Die alten Wohngebiete, teils extrem marode, sollen vollständig aus dem Stadtbild verschwinden. Die Expo 2010 ist der Grund. Danach werden den Menschen in Wohnsilos ihre Sozialkontakte abhanden kommen. Die Anonymität wird Einzug halten.
Abgesehen von einer Vielzahl an Eigentümlichkeiten, wie geschlachtete Hühner, Schlangen und Fische zwischen Unterwäsche, Jeans und Oberhemden auf den Wäscheleinen, die das Straßenbild prägen, weiß Miriam Collée nach einem Jahr in Shanghai: "Sie müssen die Menschen lieben lernen, es ist mir gelungen. Teils sind die Wesen wundervoll und das Leben ist auf jeden Fall diese Erfahrung wert. Die Gastfreundschaft ist es auch, die mich bekannt gemacht hat mit Mondkuchen, gebacken aus einer Lotuspaste mit salzigem Eidotter, der den Titel meines Buches festlegte."
Von Christiane Weinhold