Erinnern und Vergessen

Ylva und Hilde Østby stellten ihr Buch über das Gedächtnis vor

Ylva Østby las die Passagen aus ihrem Buch 'Nach Seepferdchen tauchen' während der Lesung sogar auf Deutsch: 'Ein bisschen kann ich mich noch an die Sprache erinnern ...' (SZ-Foto: Sarah Benscheidt)

Bad Berleburg. (sabe) „Und der Mensch heißt Mensch, weil er vergisst, weil er verdrängt …“ Was Herbert Grönemeyer in seinem Lied „Mensch“ benennt, untermauerte Neuropsychiaterin Ylva Østby bei ihrer Lesung „Nach Seepferdchen tauchen – Ein Buch über das Gedächtnis“, die am Mittwoch im Rahmen des Bad Berleburger Literaturpflasters stattfand, mit Fakten. „Vergessen ist natürlich, es gehört zum Mensch sein dazu, erfüllt sogar wichtige Funktionen.“

Die führende norwegische Expertin auf dem Feld der Gedächtnisforschung begibt sich in ihrem Buch gemeinsam mit ihrer Schwester und Autorin Hilde Østby auf die Spuren des Gedächtnisses, folgt den Wegen von Erinnern und Vergessen und erklärt, wie eben diese Prozesse funktionieren und unsere Identität prägen.

Der Mixtur aus Reportage und aufbereiteten Fakten geht dabei auch ein Experiment voraus, das die beiden Schwestern durchgeführt haben: Dafür entsendeten sie zehn Taucher auf den Grund des Oslofjords, um die Mechanismen des Erinnerungsprozesses zu erforschen. Diese Untersuchung und die Tatsache, dass ein Teil des menschlichen Gehirns (der Hippocampus) in seinen visuellen Anlagen der Form eines Seepferdchens (lat. Hippocampus) gleicht, ist titelgebend für das Werk.

Können wir unseren Erinnerungen trauen? Wie unterscheidet sich das Gedächtnis eines Kindes von dem eines älteren Menschen? Wie können wir unsere Lernfähigkeit verbessern? Kann ein Mensch auch ohne Erinnerungsvermögen ein glückliches Leben fuhren?

Die Fähigkeiten des Menschen, sich zu erinnern – oder eben auch zu vergessen –, gibt seit jeher Rätsel auf. „Es ist wirklich mythisch“, sagt Ylva Østby, gewandt an das zahlreich erschienene Publikum – dicht an dicht reihten sich die voll besetzten Stuhlreihen im Aufenthaltsraum der Vamed Rehaklinik im Fachbereich Neurologie.

In der non-fiktionalen Geschichte, die das Buch so unterhaltsam, verständlich und anschaulich erzählt, wird also eine kluge Wissenschaftentwicklung dargestellt, die nicht nur fasziniert, sondern auch aufklärt. „Gehen Sie nicht zu hart mit sich ins Gericht, wenn Sie eine Sache, die Sie morgens erledigen wollten, abends doch vergessen, das ist ganz normal“, erklärte Ylva Østby, die die Passagen ihres Buches nicht nur auf Deutsch las, sondern Rikarde Riedesel, die die Veranstaltung moderierte, auch so antworten konnte.

„Ein bisschen kann ich mich noch an die Sprache erinnern“, lachte sie. Das liege aber daran, dass die erlernte Sprache durch kontinuierliche Übung im Langzeitgedächtnis gespeichert sei, sich Erinnerungsspuren gebildet hätten. Alles, was erst einmal im Kurzzeitgedächtnis lande (Einkaufsliste, Namen usw.), laufe dann viel eher Gefahr, vergessen zu werden. „Wir vergessen 90 Prozent von allem Erlebten eines Tages.“

Ob man sich an spezifische Erlebnisse später erinnern könne, hänge von vielen Faktoren ab. „Der Kontext ist ganz wichtig.“ Und: „Wenn man während dem Erlebten beispielsweise an einer Depression leidet, kann man sich nur allgemein erinnern, nicht explizit, nicht an das damit verbundene Gefühl.“

Wenn sie also in zwanzig Jahren noch einmal an Bad Berleburg denken werde, dann werde sie sich an diese Lesung erinnern können, „und an das Schloss und die Schwäne – und, wie glücklich ich war ...“

Von Sarah Benscheidt


Siegener Zeitung (18.10.2019)
Internet: www.siegener-zeitung.de
Bildquelle: SZ-Foto von Sarah Benscheidt (sabe)

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