Hallgrimur Helgason
stellte beim "Literaturpflaster"
seinen Roman "Eine Frau bei 1000º" vor

Skurril, bitterböse und manchmal leise

Nach der Lesung in der Backstube des Berleburger Cafés Wahl nahm sich Hallgrimur Helgason Zeit, seine Bücher zu signieren. (SZ-Foto: Guido Schneider)

Bad Berleburg. (schn) Das Leben, so sagt man, schreibt die besten Geschichten, und diese einfache Weisheit stimmt. Das erkannte auch Hallgrimur Helgason, der am Donnerstagabend im Rahmen des Bad Berleburger "Literaturpflasters" las, als er im Wahlkampf für die isländischen Sozialdemokraten eine Telefonaktion durchführte. Er bekam eine alte Frau an den Hörer, die eine fast unglaubliche Geschichte zu erzählen hatte.

Die Dame, mit berühmter Verwandtschaft, lebte seit 18 Jahren in einer Garage, irgendwie abgeschieden und dennoch weltoffen. Ihr Tor nach draußen war ein Laptop, mit dem sie sich bestens auskannte und über den sie Kontakt zur Welt hielt. Persönlich hat er der Autor und Künstler diese Frau nie kennenlernen können, aber er durfte ihre Memoiren lesen und machte daraus einen Roman. "Eine Frau bei 1000°" heißt das Werk, und hier gehen Fiktion und Biografie munter durcheinander.

In Deutschland, so Hallgrimur Helgason, sei das weiter kein Problem, aber in Island, da würden die Leser grundsätzlich alles für bare Münze nehmen. Deshalb hat die isländische Ausgabe auch ein eigenes Vorwort, das auf diesen Umstand, die Vermischung von Fiktion und Biografie, besonders hinweist. Nebenbei: Die deutschen Leser können das Buch schon kaufen und lesen, während die Isländer noch bis zum Weihnachtsgeschäft warten müssen.

Was skurril wirkt und ist, passt zu diesem Buch, denn der Roman sprüht vor Skurrilitäten, kommt aber ebenso oft leise und nachdenklich daher. Die Sprache von Hallgrimur Helgason ist direkt, offen, manchmal schonungslos, er benennt die Dinge beim Namen, für manchen Leser vielleicht sogar über die Ekel- und Schamgrenze hinweg. Aber das ist es auch, was seine Fans an seinen Büchern schätzen, ein unverblümter Schreibstil, kombiniert mit zynischen Kommentaren, Sarkasmus und einem teilweise bitterbösen Humor.

Helgason erzählt die Geschichte der Herbjörg Björnsson, die im Jahr 2009 in einer isländischen Garage in einem Krankenhausbett liegt und auf den Tod wartet, mit zwei Schachteln Pall Mall am Tag, ihrem Laptop und ihrer geliebten Handgranate. Dieses "Ei des Zaren", wie es einmal nennt, trägt sie immer bei sich. Ihr Vater hat ihr die Granate während des Krieges überlassen, damit sie sich verteidigen könne. Als Kriegsfreiwilliger in der Waffen-SS hat der Isländer auf deutscher Seite gekämpft, Frau und Tochter erlebten den Krieg in Deutschland.

Trotz aller Brüche im Leben ist die alte Frau mit sich im Reinen - und ist es wieder auch nicht. Den Tod ihrer dreijährigen Tochter hat sie nie verwunden, auch wenn sie später noch drei Söhne bekommen hat. Den vielleicht skurrilsten Moment schildert der Roman mit Herbjörgs Anruf beim Krematorium von Reykjavik. Dort möchte sie einen Termin für ihre Einäscherung vereinbaren. Den könne sie aber nur bekommen, wenn sie schon tot sei, so die Stimme am Telefon ...

Da passte der Ort dieser "Literaturpflaster"-Lesung gewissermaßen gut: Hallgrimur Helgason saß vor den Backöfen des Cafés Wahl. Hier las der Isländer sogar ein Kapitel auf Deutsch - mit skandinavischem Akzent. Den weiteren deutschen Text trug Marlen Jourdan vor, "Kulturpflaster"-Organisatorin Rikarde Riedesel moderierte den Abend.

Von Guido Schneider


Siegener Zeitung (08.10.2011)
Internet: www.siegener-zeitung.de
Bildquelle: SZ-Foto von Guido Schneider (schn)

Siegener Zeitung

© 2007-2011 Berleburger Literaturpflaster - Literatur & Kultur aus dem Schwerpunktland der Frankfurter Buchmesse.
Impressum :: Datenschutz :: powered by jr webdesign