Einblicke in türkische Politik

Bad Berleburg. (cw) Es war ein ungewöhnlicher Ort für eine Lesung. Hinter Murat Uyurkulak öffneten sich die Regalgänge des Hit-Marktes. Vor ihm wartete am Sonntagabend ein gespanntes Publikum.

Murat Uyurkulak erklärte den interessierten Zuhörern seinen Standpunkt und seine politische Richtung. (WP-Foto: Christiane Weinhold)

Als Kind einer politisch hochaktiven Familie kam der türkische Schriftsteller 1972 in Aydin nahe Izmir zur Welt. Seine Kindertage waren geprägt durch die Autorität seines Vaters, der nicht nur als Pädagoge Ansehen genoss, sondern auch großen Einfluss in der türkisch-kommunistischen Partei hatte.

Murat Uyurkulak träumte wie jeder kleine Junge seines Alters Anfang der 80-er Jahre von einem der ersten Computer, doch dieser Wunsch blieb ihm versagt. Stattdessen staffierte sein Vater ihn mit Büchern aus, die dem Jungen sowohl politische als auch historische Bildung nahebringen sollten. Ganz langsam begann der junge Murat zu lesen und sich für die Umstände in seinem Land zu interessieren.

Der 12. September 1980, der Tag des in der Geschichte der Türkei dritten Militärputsches, stellte das Leben Uyurkulaks völlig auf den Kopf. Alle Parteien des Landes waren plötzlich verboten, sein Vater wurde inhaftiert und für unzählige Familien begann unerträgliches Leid.

Uyurkulak, der seine Studien in Jura und Kunsthistorie abbrach, zog es 1999 in die heimliche Kulturhauptstadt der Türkei, Istanbul. Dort arbeitete er hart für wenig Geld in den diversen Berufszweigen. Im Anfang schlug er sich als Kellner durch, bekam dann später Anstellungen bei Istanbuler Tageszeitungen als Journalist und Redakteur.

Die Politik seines Landes hat den jungen Mann niemals losgelassen, tief getroffen von Ungerechtigkeit bewegt er sich in die äußerst linke Ecke des politischen Denkens. Mit seinem ersten Roman "Tol", der 2002 in der Türkei erscheint, bricht er in Sprache und Erzählstil mannigfach Tabus.

"Tol" ist nicht türkisch. Murat Uyurkulak sympathisiert sehr stark mit dem kurdischen Volk und sann darauf, im Titel seine innere Revolte gegen Missstände in seiner Heimat aufzuzeigen und gleichzeitig einen phonetischen wie politischen Gruß an die Kurden zu senden. Sein deutscher Übersetzer Gerhard Meier wählte nicht die direkte Übersetzung, "Rache", für das erste Werk des türkischen Literaten, das auf Deutsch erschien. Es bekam den Titel "Zorn".

Erzählt wird die Geschichte zweier Männer, die sich auf einer Zugreise durch die Türkei kennenlernen. Der eine, Yussuf, ein 30-jähriger Verlagskorrektor, der andere ein etwa 70 Jahre alter Dichter kommen ins Gespräch. Der enorme Einfluss autobiografischer Elemente des Autors bei beiden Protagonisten ist deutlich, wird von Uyurkulak allerdings als nicht unbedingt tragend beschrieben.

Die Murat Uyurkulak begleitende Übersetzerin, die Hamburger Turkologin Sabine Adatepe, stellte drei der einschneidendsten Kapitel des Buches vor. Adatepe betonte die signifikante Bedeutung des Werkes in der Türkei seit seinem Erscheinen und offenbart damit Kritikerstimmen, die dies als die Wiedergabe der inoffiziellen Geschichte des Landes während der letzten 50 Jahre erkennen.

Der Autor selbst charakterisierte sich in der Anschlussdiskussion als Betrachter einer vor dem Abgrund stehenden Welt, für den die Auflösung aller Klassen die Rettung darstellt.

Von Christiane Weinhold


WESTFALENPOST (14.10.2008)
WP-Foto: Christiane Weinhold (cw)

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