Epische Reise in die türkische Tradition
Literaturpflaster:
Islamwissenschaftlerin
las in Apothekerräumen
Bad Berleburg. (cw) "Ich bin eine Rentnerin außer Diensten", bekennt die 72-jährige Islamwissenschaftlerin Dr. Gisela Kraft. Sie hat beim 15. Literaturpflaster Einblicke in ihr schriftstellerisches Wirken und somit auch in die türkische Literatur geliefert.
Längst hat Dr. Gisela Kraft aus Weimar ihren Fernseher abgeschafft. Das Interessanteste waren für sie zuletzt nur noch gute Krimis, und die kamen zu selten. Zurzeit widmet sich die gebürtige Berlinerin intensiv der Übersetzung türkischer Literatur befreundeter Schriftsteller. Die omnipotente Dame, die mit 20 Jahren eine Ausbildung in Schauspiel und Eurythmie absolvierte, schloss in späteren Jahren ein Studium der Islamwissenschaften an, das sie 1978 mit der Promotion beendete. In der Bad Berleburger Kur-Apotheke gab sie nun eine Kostprobe ihrer Arbeit: Die Türkei als Gastland der Frankfurter Buchmesse ist in literarischer Hinsicht Krafts großes Steckenpferd. "Wird es Abend im Morgenland?" - lautete die Frage des Abends. Die Wissenschaftlerin brachte den Zuhörern die Erzählkunst, orientalische Kultur sowie arabische und persische Einflüsse auf das heutige Leben in der Türkei näher.
Sie unternahm eine epische Reise: Vom 10. Jahrhundert machte sie einen Sprung in die Vergangenheit des 8. Jahrhunderts und landete über die Lyrik in der Neuzeit des 20. Jahrhunderts. Die türkische Literatur wird streng in ländliche und städtische Schreibkunst getrennt. Die bildhafte Symbolik von Abschied, Pferd, Vögeln, Berg im Nebel, Ochse, Erde und Bäumen hat diese Literatur über die Jahrhunderte geprägt und Aussagekraft verliehen.
Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in der Türkei keine belletristische Prosa. Europäische Strömungen und der Einfluss der westlichen Welt bereiteten dieser Gattung die Geburtsstunde. Ein starker Einfluss lag hierbei auch in der Erzählkunst in den Familien, die in der Hauptsache durch Mütter und Großmütter vermittelt wurde. Erst seit Einführung der lateinischen Schrift sei die Analphabetenrate stark gesunken und die Landbevölkerung habe einen großen Bildungsschritt nach vorn getan, stellte Gisela Kraft heraus.
Konja liegt an der Grenze zu Anatolien und war über Jahrhunderte Zentrum der bedeutendsten türkischen Literatur; es folgte Konstantinopel, dann Byzanz und das neuzeitliche Istanbul. Führender Name ist hier der Literat Yunus Emre (gest. 1321), der als der erste mystische Volksdichter gilt und dessen Werke das Streben nach Erleuchtung, die Sehnsucht und das Göttliche im Menschen spiegeln und wie ein Themenband viele weitere Autoren des Landes beeinflusste.
Signifikanter Anknüpfungspunkt des Vortrages waren die Berührung Türken und Kurden, deren schwieriges politisches und völkerkundliches Verhältnis der Schriftsteller Bekir Yildiz (1933-1998) besonders beleuchtete. Sein werktätiges Leben in Deutschland beeinflusste seine später gesellschaftskritische Migrantenliteratur sehr stark. Gisela Kraft übersetzte die Werke "Südostverlies" und "Topkapi-Harran" des in der Türkei als revolutionär geltenden Autors.
Mit reinem türkischem Akzent las die Schriftstellerin, mit bühnendichterischem Know-how aus poetischen Werken und brachte eine lyrische Gesangsdarbietung. Die Zuhörer waren überaus begeistert von der interessanten Frau, die sowohl Einblicke in die Demografie türkischer Metropolen gewährte als auch historische, religiöse Ansichten und ethnische Erfahrungen zu einem Erlebnis in den Apothekenräumen machte.
Von Christiane Weinhold